Mein russisches Abenteuer
verlor ich den Faden. Wissarion sprach weiter,
von Seelenwanderung, von Energiewellen, seine Stimme war sanft und
eindringlich, sie flutete den Raum. Ich fühlte mich von Antworten umspült, aber
als ich später meine Notizen durchlas, konnte ich mir kaum mehr zusammenreimen,
worüber wir eine ganze Stunde geredet hatten. Meine Fragen kamen mir noch
sinnloser vor als seine Antworten.
Erst ganz am Ende des Gesprächs fiel ein Satz, der mich weckte. Wenn
eines Tages, sagte Wissarion, das Letzte Testament abgeschlossen sei, dann
werde auch seine eigene Anwesenheit nicht mehr nötig sein. Etwas zu hastig
platzte ich mit der Frage heraus, die man einem Gott nur ungern stellt: »Und
dann? Was geschieht, wenn Sie einmal nicht mehr da sind?«
Wissarion lachte, amüsiert, nicht defensiv. »Es werden Schüler
bleiben«, sagte er. »Und es wird eine Schrift bleiben, die keine Fragen offen
lässt. Es wird nicht nötig sein, Kommentare zu schreiben, die meine Worte
verfälschen, wie es in der Vergangenheit so oft geschehen ist.«
Wadim, der Evangelist, nickte heftig. Wissarion suchte seinen Blick,
wissendes Lächeln querte den Raum. Sie waren ein eingeschworenes Team, sie
hatten sich abgesichert gegen die Fehler ihrer Vorgänger. Ihr Plan war
wasserdicht, ihr Testament das letzte.
Zurück am Fuß des Bergs, in Petropawlowka, warteten
schlechte Nachrichten. Das warme Wetter der vergangenen Tage hatte die
Schneeschmelze beschleunigt, alle Flüsse führten Hochwasser, auch der Kasyl,
den ich auf der Hinfahrt überquert hatte. Die Uferstraße war überschwemmt, der
Busverkehr eingestellt, das Tal von der Außenwelt abgeschnitten. Bei der
Vorstellung, auf unabsehbare Zeit im Reich Gottes festzusitzen, sträubten sich
mir die Nackenhaare. Erst jetzt wurde mir meine innere Anspannung bewusst –
tagelang hatte ich zu allen Bekehrungsversuchen lächelnd genickt, jetzt konnte
ich nicht mehr. Dankbar nahm ich das Angebot eines pilgernden Pärchens an, die
mit einem Geländewagen die Durchfahrt versuchen wollten.
Sascha und Ira kamen »aus der Gegend«. Sie lebten, wie sich
herausstellte, in der Nähe von Nowokusnezk, gut vierhundert Kilometer entfernt,
ein sibirischer Katzensprung. Es war ihr erster Besuch bei Wissarion, aber sie
wollten wiederkommen. Vielleicht für immer. Sascha erzählte von der Baufirma,
die er gegründet hatte. »Ich dachte immer, ich bräuchte das – eine eigene
Firma, ein Auto, ein Haus. Aber dann arbeitest du und arbeitest, und am Ende
fragst du dich: wozu?«
Wir erreichten die Uferstraße um Mitternacht, bei strömendem Regen.
So weit die Scheinwerfer reichten, stand der Asphalt unter Wasser. Ich zog die
Schuhe aus und lief vor dem Wagen her, um die flachste Durchfahrt zu suchen,
während Sascha langsam nachsetzte. Stellenweise reichte mir das Wasser bis zu
den Knien, aber wir kamen durch. Unser Jubel war gemeinsam, unsere Motive
verschieden.
Zwei Stunden später machte Sascha am Bahnhof einer menschenleeren
Kleinstadt Halt. »Bin gleich wieder da«, sagte er. Ira und ich blieben im Auto
sitzen, zu müde für Gespräche. Ich sah aus dem Fenster. Es regnete nicht mehr,
die Wolken hatten sich verzogen, über dem Bahnhof strahlte ein vollkommener
Sternenhimmel. Nicht weit entfernt, dachte ich, steht jetzt ein bärtiger Mann
auf einem Berg und betrachtet die gleichen Sterne wie ich, und wie Ira, und wie
Millionen anderer Menschenkinder, und Sergej Torop weiß es, und er weiß, dass
die Sterne dieselben sind, die er als Kind betrachtet hat. Nur er selbst,
Sergej Torop, ist nicht mehr derselbe.
Ich fragte mich, wo Sascha blieb. Mit den Augen suchte ich den
dunklen Bahnhofsplatz ab. An einer Mauer lehnte ein Betrunkener, der sich
würgend den Finger in den Hals steckte. Ich sah genauer hin. Es war Sascha.
»Ira«, rief ich, »dein Mann, was ist mit ihm?«
Sie drehte sich um, aber vom Vordersitz aus konnte sie Sascha nicht
sehen.
»Kotzt er?«
»Ja.«
Sie seufzte. »Ich wusste, dass es wieder anfängt. Es ist die Leber.
Er hat aufgehört zu trinken, schon lange, aber er ist krank, schwer krank.«
Ich öffnete die Wagentür. Ira hielt mich zurück. »Lass ihn.
Hinterher geht es ihm besser.«
Schweigend warteten wir. Es war still auf dem Bahnhofsplatz, nur
Saschas Würgen drang durch die Dunkelheit.
»Auf dem Berg ging es ihm besser«, sagte Ira leise.
Ein knappes Jahr später, lange nach meiner Rückkehr aus
Russland, veröffentlichte Wissarions Evangelist Wadim den zwanzigsten Band des
Letzten
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