Mein russisches Abenteuer
noch den Geist des alten sowjetischen
Führerkults. Ehrfürchtig stehen wir vor Seinem Bücherregal, wir betrachten uns
in Seinem Rasierspiegel. Die Exkursionsleiterin verliest die Heiligenvita. Dann
wendet sie sich an die Gruppe. »Fragen?«
Ein kleiner Junge will wissen, wo das Klo ist.
»Am Haupteingang.«
Nein, sagt der Junge, er will wissen, wo der Lenin aufs Klo gegangen
ist – das Haus vom Lenin hat ja gar kein Klo.
Alle lachen. Nur die Führerin nicht. Ihre Antwort ist schmallippig.
»Ich persönlich, junger Mann, finde diese Frage irrelevant.«
Die Mutter springt ein. »Bestimmt hatte der Lenin einen Nachttopf
unterm Bett«, flüstert sie. »Die Frau hat doch eben erzählt, dass der Lenin ein
Dienstmädchen hatte. Bestimmt hat sich das Mädchen um den Nachttopf gekümmert.«
»Fragen?«
Ich zögere. Gerüchteweise habe ich gehört, dass das Dienstmädchen
sich nicht nur um Lenins Nachttopf gekümmert hat. Als ich frage, sieht die
Führerin mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt.
»Was?« Ihre Stimme überschlägt sich. »Wer? Wer hat das behauptet?«
»Ein alter Mann an der Bushaltestelle.«
»Lügen!« Sie schüttelt vehement den Kopf. »Lenin hatte eine Mission,
junger Mann! Er hat hier Bücher geschrieben, er hat eine Partei aufgebaut, für
solchen Unsinn hatte er überhaupt keine Zeit! Haben Sie die Betten nicht gesehen?«
In der Tat habe ich die Betten gesehen. Sie stehen im rechten Winkel
zueinander, Lenins Kopf an Krupskajas Füßen, getrennt durch ein keusches
Bettgestell.
»Sie meinen …?«
»Ja, ich meine! Lenin war ein hochbeschäftigter Mann!«
Ich begreife sie nicht. Sie ist jung, nicht viel älter als ich, sie
kann noch nicht lange hier arbeiten. Niemand zwingt sie, an einen Lenin zu
glauben, der vor lauter Missionsbewusstsein nicht aufs Klo geht.
Sie wirkt erleichtert, als sie die Gruppe verabschiedet.
Galina Alexandrowna, die Linguistin, bestätigte mir am
Telefon, was ich vermutet hatte: Der Fluss war weiter gestiegen und auf
unabsehbare Zeit nicht schiffbar.
Um die Zeit zu überbrücken, beschloss ich, in die Nachbarrepublik
Kemerowo zu fahren. Ich hatte von einer kleinen Altgläubigensiedlung namens
Kilinsk gehört, in der entfernte Verwandte von Agafja Lykowa lebten.
Meiner Karte zufolge lagen knapp 350 Kilometer zwischen Abakan und
Kilinsk, aber mir war klar, dass die Zahl wenig bedeutete. Entfernungen haben
in Sibirien etwas Unwirkliches, Ungreifbares. Schleichend durchqueren die Züge
kilometerweites Nichts, in dem das Auge jedes Gefühl für die zurückgelegte
Distanz verliert. Die Fahrpläne in den Zügen, die Zeitangaben auf den
Fahrkarten, die Uhren auf den Bahnsteigen, alles tickt abstrakt nach Moskauer
Ortszeit. Das Verstreichen der Stunden verschwimmt. Die Mitreisenden warten
stoisch, und jedes Gespräch über Entfernungen endet mit wegwerfenden
Handbewegungen – zwei Tage, das ist nichts, tausend Kilometer, das ist nichts,
das ist gar nichts. Irgendwann empfindet man es selbst nicht mehr anders.
Am Bahnhof wurde mir klar, dass es eine lange Fahrt werden würde.
Ich musste mehrfach umsteigen, Berge und Wälder umrunden, eine innerrussische
Verwaltungsgrenze queren, in eine andere Zeitzone wechseln. Bei der Abfahrt in
Abakan verpasste ich fast den Nachtzug, weil ich vergessen hatte, die
Abfahrtszeit in Ortszeit umzurechnen. Moskau plus vier, hämmerte ich mir ein,
plus vier, plus vier. Ich hämmerte es mir etwas zu gründlich ein – am nächsten
Morgen, in Nowokusnezk, galt nur noch Moskau plus drei, und ich verpasste den
Überlandbus nach Taschtagol. Der nächste fuhr zwei Stunden später. Fünfzig
Kilometer hinter der Stadtgrenze brach die Vorderachse. Niemand wusste, wann
der Ersatzbus kommen würde. Niemand wusste, ob überhaupt einer kommen würde.
Niemand außer mir stellte Fragen. Irgendwann stellte ich auch keine mehr.
Als ich endlich in Taschtagol ankam, war ich seit vierundzwanzig
Stunden unterwegs und noch immer dreißig Kilometer von meinem Ziel entfernt.
Busse nach Kilinsk fuhren nur montags und freitags. Es war Dienstag. Alle
Autofahrer, die ich ansprach, winkten ab: »Vergiss es. Das ist am Ende der
Welt, da fährt heute niemand mehr hin.«
Die einzige verfügbare Unterkunft in Taschtagol war eine
Dienstwohnung im Obergeschoss des Busbahnhofs. Zwei von drei Zimmern waren
unmöbliert. In keinem funktionierte das Licht. Ich schloss die Tür hinter mir
ab und ging spazieren.
In einem anderen Leben hätte Taschtagol eine
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