Mein russisches Abenteuer
Testaments. Ich entdeckte den Text auf der Internetseite der Gemeinde.
Er schildert das Jahr 50 der Ära der Morgendämmerung, säkular gesprochen: das
Jahr 2010. Kapitel 17 beginnt mit folgendem Vers:
Am
30. Mai nach dem sonntäglichen Sakrament der Vereinigung beantwortete der
Lehrer im Arbeitszimmer seines Hauses die Fragen eines Schriftstellers aus
Deutschland namens Jens. Jens beherrschte die russische Sprache gut, er schrieb
ein Buch über Russland …
Ungläubig las ich die Wiedergabe unseres schlingernden Gesprächs, 75
Bibelverse lang. Es klang nicht viel verständlicher als damals in der Taiga,
aber plötzlich bekam es einen Sinn, der jenseits der Worte lag. Ich war zu
Wissarion gereist, um ihn zu einer Figur in einem Buch zu machen. Erst jetzt
begriff ich, dass er das Gleiche mit mir getan hatte.
An ihren Bärten sollt ihr sie erkennen
Sascha und Ira setzten mich in Abakan ab, der Hauptstadt
der Republik Chakassien. Es dämmerte schon, als ich in der welken
Blümchenlandschaft eines lange nicht mehr tapezierten Hotelzimmers einschlief.
Am nächsten Vormittag fuhr ich mit einem Bus weiter in die
Kleinstadt Schuschenskoje, benannt nach dem Fluss Schusch. Wissarion hatte hier
einige Jahre seiner Jugend verbracht, aber das war nicht der Grund meines
Besuchs. Ich suchte nach den Spuren eines anderen Gottes.
Moskau, 23. Februar 1897. Am Kursker Bahnhof wartet ein junger Mann
auf die transsibirische Eisenbahn. Vor ihm liegt eine zweimonatige Reise, die
in Schuschenskoje enden wird. Das Zugabteil ist eng, aber nicht halb so eng wie
Zelle 193 des Petersburger Untersuchungsgefängnisses, aus der man den jungen
Mann soeben entlassen hat. Weil er revolutionäres Schrifttum verbreitet hat,
soll Wladimir Uljanow die verbleibenden drei Jahre seiner Strafe als Verbannter
verbüßen.
Verglichen mit dem späteren Albtraum der sowjetischen Lager ist das
zaristische System der Verbannung komfortabel. Angehörige gehobener Schichten –
Uljanow stammt aus einer Gutsbesitzerfamilie – können ihr Leben in Sibirien
mehr oder weniger frei gestalten. Der junge Mann lässt sich in einem
mittelgroßen Landhaus nieder. Er empfängt stapelweise Post von revolutionären
Gesinnungsgenossen, ebenso große Stapel sendet er zurück. Er kauft sich ein
Jagdgewehr und einen Irish Setter namens Schenka, regelmäßig sieht man ihn
durch die umliegenden Wälder pirschen. Im Sommer badet er zwei Mal am Tag im
Schusch, im Winter beeindruckt er die Kleinstadtbewohner mit dem eleganten
Schwung seines Schlittschuhlaufs. »Wenn er, die Hände in den Taschen vergraben,
über das Eis lief«, erinnert sich eine bewundernde Zeugin, »konnte niemand ihn
einholen.«
Nebenbei findet der junge Mann in Schuschenskoje Zeit, ein Buch zu
vollenden, das später in den Kanon der Heiligen Schriften der Sowjetunion
eingeht: »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland«, erschienen 1899 unter
dem Pseudonym Wladimir Iljitsch Lenin.
Die Schlittschuhe hängen an der Wand, als hätte Lenin sie gerade zum
Trocknen aufgehängt. Ein großer Mann mit kleinen Füßen, denke ich
unwillkürlich. Es ist ein ruhiger Tag im ehemaligen Wohnhaus des Revolutionärs,
wir sind zu sechst: die Exkursionsleiterin, eine russische Familie und ich. Das
Jagdgewehr hängt an der Schlafzimmerwand, darunter stehen die beiden Betten, in
denen Lenin und seine Frau schliefen. Nadeschda Krupskaja war kurz nach Lenins
Abreise ebenfalls verhaftet worden. Als man sie in die westsibirische Stadt Ufa
verbannte, bat sie, zu ihrem Verlobten übersiedeln zu dürfen. Die Behörden
willigten ein, stellten jedoch, wie Lenin an seine Mutter schrieb, »eine
tragikomische Bedingung: Wenn wir nicht sofort heiraten, muss sie zurück«.
Die Trauung fand in Schuschenskoje statt, in einer kleinen Kirche,
die nach der Revolution abgerissen wurde. Ansonsten konservierte man in der
Stadt jeden Stein, an dem Lenin auch nur vorbeigelaufen war. 1970, zu Lenins
hundertstem Geburtstag, wurde der gesamte historische Stadtkern von Einwohnern
befreit und zur Pilgerstätte umgewidmet. Man schleuste Millionen von
Werktätigen durch den Verbannungsort ihres Erlösers.
Heute, wo der Pilgerstrom verebbt ist, steckt das Museum erkennbar
in Erklärungsnöten. Verdruckst hat man das Gelände umbenannt in ein
»Freilichtmuseum für die sibirische Dorfkultur der Jahrhundertwende«. Es ist
ein kurioser Ort: eine Pilgerstätte, die ihren Heiligen versteckt, damit der
Pilgermangel nicht so auffällt.
Allein Lenins Haus atmet
Weitere Kostenlose Bücher