Mein russisches Abenteuer
Arbeit bekam er
keinen Lohn, nur die Hütte. Die Friedhofsbesucher brachten ihm Tee und
Zigaretten mit, und jeden Sonntag ein großes Glas Kascha. Getreidebrei war das
Einzige, was sein Magen noch vertrug. Die Hälfte verfütterte er an die Hunde.
Er kochte Tee. Der Ofen war gesprungen, das Rohr saß nicht richtig,
aus allen Ritzen trat Rauch aus. Meine Augen tränten. Wir teilten uns eine
gelbe Plastiktasse und filterlose Zigaretten. Die Hunde hatten sich aufs Bett
gelegt, Gena kraulte dem größeren den Kopf. Mal sprach er mit mir, mal mit den
Hunden. Manchmal war ich nicht sicher, mit wem er sprach.
Seine blassen Augen strahlten eine spät gefundene Ruhe aus. Ich
witterte Dostojewskij, die alte russische Geschichte von Blut und Buße, Schuld
und Sühne. Ein Mörder, der die Toten bewacht. Aber als ich Gena nach Gott
fragte, lachte er wie ein Traktor.
»Gott? Ich bin unter den Kommunisten aufgewachsen. Damals haben wir
uns alle lustig gemacht über diese Bärtigen mit ihren Ikonen. Jetzt lacht
keiner mehr. Jetzt rennen sie alle in die Kirche. Ist jetzt Mode.«
Er zog den Hund zu sich und biss ihm sanft ins Ohr. »Stimmt’s,
Timka? Die Kommunisten haben wir überlebt, die Popen werden wir auch
überleben.«
Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Nach langem Suchen
fand ich einen alten Mann, der bereit war, mich nach Kilinsk zu fahren, obwohl
er eigentlich in die andere Richtung musste. »Deutscher?«, fragte er immer
wieder. »Wirklich Deutscher?« Die letzten Deutschen, die er in Taschtagol
gesehen hatte, waren Kriegsgefangene gewesen.
Kurz hinter der Stadtgrenze ging die Asphaltstraße in einen
löchrigen Feldweg über. Der alte Mann fluchte bei jedem Schlagloch. Wir
passierten ein Dorf, dann noch eins, dann sehr lange nichts. »Und so geht es
immer weiter«, sagte der Mann. »Noch zwei Dörfer, dann Kilinsk, dann noch zwei
Dörfer, dann nichts mehr. Nur noch Taiga. Die Straße führt bis in die Mongolei.
Aber ich kenne niemanden, der je so weit gefahren ist.« Verständnislos
schüttelte er den Kopf. »In den Dörfern hier wohnen nur Altgläubige. Seltsame
Leute. Wollen unbedingt am Ende der Welt leben.«
Staunend sah ich aus dem Fenster. Aus der Landschaft war jede Spur
menschlichen Lebens verschwunden. Dichte, unberührte Taiga umgab uns,
zerschnitten allein von der staubigen Schneise, durch die wir unsere Bahn
zogen. Jedes Mal, wenn hinter einer Bergkuppe das nächste menschenleere Tal
auftauchte, und das nächste, und das nächste, dachte ich: Sie haben getan, was
sie konnten. Ein besseres Versteck hätten die Altgläubigen nicht finden können.
Nach anderthalb Stunden Fahrt mündete der Feldweg in ein enges,
baumloses Tal. Ein paar Dutzend Holzhäuser säumten einen kleinen Bach. Am Ufer
tränkten zwei bärtige Männer ihre Pferde. Misstrauisch starrten sie das Auto
an. Der Fahrer legte mir die Hand auf die Schulter. »Soll ich warten? Du kommst
hier nicht weg.« Dankend lehnte ich ab.
Die beiden Bärtigen musterten mich schweigend, als ich näher trat.
Ich nannte einen Namen, den ich in einer zwei Jahrzehnte alten Ausgabe einer
Krasnojarsker Zeitung gelesen hatte. Wortlos deuteten sie auf ein Haus auf der
anderen Seite des Bachs. Ich dankte. Sie schwiegen.
Das Dorf sah aus wie ein toter Winkel der Weltgeschichte. Ich lief
an Häusern vorbei, die so schief in den Berghängen lehnten, als seien sie im
Lauf der Jahrhunderte mit der Landschaft verwachsen. An den Holzfassaden hingen
Pferdegeschirre und antiquierte Werkzeuge, deren Zweck ich nicht erriet. Nur
ein paar versprengte Autos und Stromleitungen verankerten Kilinsk in der
Gegenwart.
Auf einem Holzbalken balancierte ich über den Bach. Unsicher blieb
ich vor dem Gartentor des Hauses stehen, auf das die Bärtigen gezeigt hatten.
Laut rief ich den Namen, den ich in der Zeitung gelesen hatte, einmal, dann
noch einmal. Erst beim dritten Mal öffnete sich die Haustür. Eine alte Frau
trat in den Garten. Misstrauisch sah sie mich an. Ich haspelte ein paar
zurechtgelegte Sätze: Ich sei auf dem Weg zu Agafja, ihrer Verwandten –
vielleicht wolle sie ihr etwas ausrichten, ihr einen Brief mitgeben?
Die Frau sagte nichts. Ich sah ihr an, dass sie versuchte, meinen
Akzent einzuordnen. »Deutschland«, sagte ich, »ich komme aus Deutschland.«
Sie räusperte sich. Dann fragte sie mich, ob ich einen Chip in der
Handfläche habe. Oder in der Stirn.
Ich bat sie, die Frage zu wiederholen – ich musste mich verhört
haben.
»Haben Sie einen Chip in
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