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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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idyllische Bergsiedlung
sein können, ein gut besuchter Luftkurort, ein begehrtes Ski-Ressort. In diesem
Leben ist es eine Ansammlung windschiefer Holzhäuser und ramponierter
Plattenbauten, in die Berge gestreut wie Autoteile nach einem Verkehrsunfall.
Die Hauptstraße war menschenleer. Neben einem Müllcontainer stritten ein
Schwein und ein Hund um Abfälle. Weltkriegslosungen zierten in
unterschiedlichen Stadien des Verblassens die Fassaden der Plattenbauten: 40
Jahre Sieg! – 50 Jahre Sieg! – 65 Jahre Sieg! Es sah aus, als siege sich die
Stadt unaufhaltsam zu Tode.
    Deprimiert bog ich in eine Seitenstraße ab, die kurz hinter der
Stadtgrenze in einen unbefestigten Feldweg überging. Ich folgte ihm, bis an
einem Berghang ein umzäunter Friedhof auftauchte. Der Eingang war nirgends zu
sehen. Ich kletterte über den Zaun und stieg zwischen den Gräbern entlang
bergauf.
    Inzwischen kannte ich die russischen Friedhöfe. Ich kannte die
ernsten Blicke der Porträtbilder auf den Grabsteinen, die grob geschweißten
Metallkreuze, die Primärfarben der lackierten Zäune. Ich wusste, dass entweder
ein orthodoxes Kreuz den Grabstein ziert oder ein Sowjetstern. In Taschtagol
sah ich zum ersten Mal beides zusammen auf einem Grabstein. Timur Stepanowitsch
Ganabin, 1903–1967, dem Porträt nach kein unentschlossener Mann, wankte im Tod
zwischen Jenseits und Diesseits. Das Kreuz war oben links in den Stein
gemeißelt, der Stern oben rechts. Verblüfft betrachtete ich diese Zwangsheirat
verfehdeter Zeichen, die nun nicht einmal mehr der Tod scheiden konnte.
    Der Friedhof war groß, er zog sich bis über die Bergkuppe. Oben
angekommen blickte ich zurück auf die Stadt. Aus der Ferne sah Taschtagol fast
anheimelnd aus. Ofenrauch stand über den Gemüsegärten. Mischwälder aus Birken
und Kiefern wanden grün-grüne Muster um die Stadt, hinter den Baumkronen
leuchteten die schneebedeckten Gipfel des Altai-Gebirges.
    Ein schmaler Weg lief quer über die Bergkuppe. An seinem Ende stand
ein kleines Wärterhäuschen. Als ich mich näherte, schossen zwei schwarze
Schatten aus der Tür und stürzten auf mich zu. Mein Herz übersprang ein paar
Schläge, bevor eine Männerstimme die Hunde zurückrief. Im Eingang der Hütte
lehnte der Friedhofswärter.
    Gena war 56, aber er hätte auch 76 sein können, oder 46 – sein
Körper war eine undatierbare Ruine. Nie hatte ich einen derart zerstörten
Menschen gesehen. Alles an ihm war schief und aus den Fugen. Ein gestreiftes
Armeeunterhemd hing an seinen Schultern wie ein Baunetz, vorsorglich
aufgespannt, um Passanten vor absplitternden Teilen zu schützen. Allein die
Narben schienen seinen deformierten Körper zusammenzuhalten. In wirren Bahnen
liefen sie von beiden Armen über die Schultern bis zum Hals, eine spaltete die
Nasenwurzel, eine andere zog sich quer durch die Lippen bis unters Kinn. Seine
entstellte Mimik war schwer zu entschlüsseln. Lange verstand ich nicht, ob
meine Anwesenheit erwünscht war oder nicht.
    Aber Gena war froh, reden zu können. Er war in Kasachstan
aufgewachsen. Vor zwanzig Jahren hatte man ihn ausgesiedelt, zusammen mit all
den anderen Russen. »War Mode damals«, sagte er trocken. Seine Mutter hatte er
mitgenommen, sein Sohn war geblieben, eine Frau erwähnte er nicht. Die Mutter
war kurz nach der Ankunft in Sibirien gestorben, Gena war allein.
    Er hatte sich halb totgesoffen. Über Jahrzehnte hinweg, bis sein
Körper irgendwann den Widerstand aufgab. Seit vier Jahren war er trocken. Er
kümmerte sich um den Friedhof, dafür ließ man ihn in der Hütte leben.
    »Wo ich davor war, siehst du ja.« Er zeigte auf seine Schulter.
Zwischen den Narben erkannte ich die tätowierten Umrisse einer Kirche. Laut
zählte Gena ihre Kuppeln. »Eins, zwei, drei, vier. Für jedes Jahr eine.«
    Verständnislos sah ich ihn an.
    »Haben im Knast alle so gemacht. War Mode damals. Vier Jahre, vier
Kuppeln.«
    »Wofür?«
    »Ein Typ hat mich angerempelt. Ich hatte damals zu viel Kraft im
Körper. Konnte nicht damit umgehen.«
    »Er ist … tot?«
    Gena zuckte mit den Schultern. »Wusste nicht, wohin mit meiner
Kraft.«
    Als wir in die Hütte gingen, begriff ich, warum er im Türrahmen
gelehnt hatte. Die Beine gehorchten ihm nicht. Sein Gang war ein steuerloses
Stolpern.
    Die Hütte war winzig. Ein Bett, ein Ofen, sonst nichts. An der Wand
hingen zwei Pullover und eine Winterjacke, alles andere trug Gena am Körper. Im
Sommer wusch er sich im Fluss, im Winter mit Schnee. Für seine

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