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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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der Handfläche?«, wiederholte sie. »Oder in
der Stirn?«
    Entgeistert sah ich sie an. »Ich … ich glaube nicht.«
    Sie lief durch den Garten auf mich zu, öffnete das Tor und schob
sich an mir vorbei. »Warten Sie hier.«
    Ich sah ihr überrascht hinterher, bis sie zwischen den Häusern
verschwunden war. Eine Viertelstunde verging. Zwischendurch liefen zwei Mädchen
in langen Kleidern und Kopftüchern vorbei, die mich irritiert anstarrten. Als
ich grüßte, wandten sie die Blicke ab. Ich fühlte mich zunehmend unwohl. Ich
hatte nicht erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber ich hatte
auch nicht damit gerechnet, mich wie ein Außerirdischer zu fühlen.
    Als die Frau zurückkehrte, lief eine zweite, etwas jüngere Frau
neben ihr her. Mit fragenden Blicken blieben die beiden vor mir stehen. Nervös
begann ich, meine Anwesenheit detaillierter zu erklären, ich erzählte von
meiner Reise, von meinem Interesse für die Altgläubigen, von meiner Begegnung mit
dem Metropoliten in Moskau. Nach einer Weile begann die jüngere der beiden
Frauen, zurückhaltend zu lächeln, etwas später auch die ältere. Ein inneres
Abwägen war ihnen an den Gesichtern abzulesen, als überlegten sie, welches
Gebot das dringlichere sei: Gastfreundschaft oder Glaubenstreue. Am Ende baten
sie mich, auf einer Bank im Garten Platz zu nehmen. »Warte«, sagten sie, bevor
sie im Haus verschwanden.
    Wieder verging eine Viertelstunde. Als sie zurückkehrten, stellten
sie einen kleinen Tisch vor mir auf und beluden ihn mit Essen. Kräutertee,
roter Moosbeerensaft, schwarzes Brot. Honig, in dem Wabenreste und Bienenflügel
klebten. Kartoffelsuppe. Alles war erkennbar selbst gemacht, selbst gepflanzt,
selbst geerntet, selbst geimkert.
    »Iss«, sagten sie. Zögernd griff ich nach dem Löffel. Ich nahm an,
sie würden sich zu mir setzen. Sie lachten verlegen. »Das geht nicht.« Ich
verstand. Sie konnten nicht mit einem Häretiker essen.
    Die beiden waren Schwestern. Streng verboten sie mir, ihre Namen
aufzuschreiben. Nur Gott, sagten sie, dürfe über den Namen eines Christen
verfügen, in einer Zeitung oder einem Buch habe er nichts zu suchen. Auch nicht
in einem Register, fügten sie hinzu. Dieser letzte Satz war nicht mehr auf mich
bezogen, sie sprachen jetzt von der Volkszählung, die unmittelbar bevorstand.
Wieder würde die Regierung Beamte in ihr Dorf schicken, wieder würde man den
Altgläubigen Pässe aushändigen, und wieder würden sie die Pässe verbrennen, wie
beim letzten Mal.
    »Du hast einen Pass?«, fragte die jüngere Schwester.
    Ich nickte.
    »Da ist der Chip drin. Oder wird der Chip bei euch Deutschen schon
in die Hand gepflanzt?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Also nur bei den Amerikanern. Aber sicher bald auch bei euch.«
    Ich brauchte lange, um mir die Geschichte mit dem Chip
zusammenzureimen. Niemand in Kilinsk besaß einen Fernseher. Gelegentlich aber
fanden bunte Zeitschriften den Weg in die Taiga, die die Altgläubigen lasen wie
apokalyptische Briefe. In jeder Zeile entdeckten sie verschlüsselte Hinweise
auf das bevorstehende Ende der Welt, wie es die Heilige Schrift prophezeite.
Warum sonst berichteten die Zeitschriften ständig von »Sternen«, Sternen in
Menschengestalt, die nicht am Himmel strahlten, sondern im Kino und auf roten
Teppichen? Markus 13,25: Und die Sterne werden vom Himmel fallen. Warum waren
die Männer in den Zeitschriften alle bartlos? Jesaja 7,20: Zu der Zeit wird der Herr das Haupt
und die Haare am Leib scheren und den Bart abnehmen durch das Schermesser .
Warum berichteten die Zeitschriften über einen Lügenmessias namens Wissarion?
Markus 13,20: Denn
es werden sich erheben falsche Christi und falsche Propheten. Wozu waren die Strichcodes da, die jetzt auf alle Lebensmittel und Produkte
gedruckt wurden? Offenbarung 13,17: Und niemand wird kaufen oder verkaufen können, wenn er nicht das
Zeichen hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.
    Auch der Chip kam aus den Zeitschriften. In fremden Ländern, hieß
es, wurden inzwischen nicht nur Pässe verteilt, die Pässe enthielten jetzt
einen Chip. Der Chip war Satans Siegel. Noch war er in den Pässen, bald aber
würde er den Menschen eingepflanzt werden, wie es Johannes prophezeit hatte in
der Offenbarung, Kapitel 13, Vers 16: Und es macht, dass sie allesamt, die
Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Sklaven, sich ein
Zeichen machen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn.
    Aus den Worten der

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