Mein Sanfter Zwilling
Teint und ihren hervorstehenden Wangenknochen. Wenn man nur ihr Gesicht betrachtete, losgelöst von ihrem trägen Körper, ihrer Kleidung, ihrem Auftreten – dann war sie eine wunderschöne Frau, die von der ganzen Familie die besten Gesichtszüge vererbt bekommen hatte: die kleine Stupsnase von meiner Mutter, den vollen Mund von meinem Vater, die runden, klaren Augen von Tulja. Aber sobald sie den Mund aufmachte, sobald man auf ihre Körperhaltung achtete, trat etwas fast schon Grausames zum Vorschein: eine angestrengte Gestik, musterhaft gestreckte Schultern, ein Ansatz zum Doppelkinn, ungepflegte Hände und die matronenhafte Weichheit des Körpers. Diese Erkenntnis tat mir im Herzen weh, und schon wieder hatte ich dieses unsägliche Gefühl, nicht in meinem Leben zu stehen – ich war wie eine Schauspielerin in einem der Fernsehdokumentarfilme meines Mannes.
– Ich mag jetzt keinen Fencheltee.
– Ach, hör doch auf, ab und zu muss man sich was Gutes tun.
– Aber der tut mir nicht gut; ich mag überhaupt keinen Fencheltee. Ich kriege Bauchkrämpfe davon.
– Niemand kriegt Bauchkrämpfe von Fencheltee.
– Ich hasse Fenchel.
Leni sah mich mit strafendem Blick an, der ausdrückte, dass ich absolut falschlag, dass ich mich überhaupt falsch ernährte, dass ich die absolut falschen Tees trank.
Sie trank ihren gesunden Tee und sah sich um. Als würde sie am Zustand meiner Wohnung den meines Leben ablesen können.
– Und, wirst du kommen?, fragte ich sie, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
– Was meinst du, wohin?
– Am Samstag, zu Tulja?
– Da muss ich wohl hin, oder? Sonst wird mir der heilige Familiensegen entzogen. Gerade Tulja ist so was von aus dem Häuschen. Sie hat ja ihren heiß geliebten Jungen wieder. Wenn man es sich recht überlegt, war Ivo immer der bessere Enkel, der bessere Sohn, das bessere Kind, besser jedenfalls, als wir es je waren. Unglaublich.
Leni, die Eifersüchtige. Als Älteste hatte sie sich den Realitäten, den Katastrophen unserer Vergangenheit mehr stellen müssen als wir. Vielleicht hatte sie daher das Gefühl des Nichtgenügens nie überwunden. Vielleicht war ihr ganzer Kinderwahn eine einzige Flucht, eine einzige Sehnsucht nach einer heilen Kindheit.
– Hast du schon mit Papa gesprochen?, fragte ich beiläufig und sah auf die Uhr. Als könne mich Theo, den Mark bald nach Hause bringen müsste, vor dieser Tortur retten. Auf der Theke standen die dampfenden Tassen mit dem strengen Fenchelgeruch wie ein Symbol unseres schwesterlichen Scheiterns, neben dem Obstkorb, auf dem immer noch der Rest von Theos Möhre thronte.
– Vater wird kommen, samt seiner Tussi. O Gott! Hast du sie das letzte Mal an seinem Geburtstag mal genauer angesehen? Es ist ja unglaublich: Sie sieht aus wie eine Kröte.
– Immerhin ist sie nicht sechsundzwanzig Jahre jünger als Vater. Wenigstens das Alter stimmt zwischen den beiden.
– Ach, Blödsinn. Bei der stimmt es vorne und hinten nicht. Und sie kommt aus einem nicht unbedingt noblen Milieu, das kann man aus hundert Metern Entfernung sehen, und dann dieser schreckliche Dialekt! Ich krieg das Kotzen!
– Krieg dich wieder ein. Sie ist jetzt mehr als zwei Jahre mit ihm zusammen. Das muss man erst mal können!
– Papa ist nach wie vor ein stattlicher Mann, er würde eine Bessere abkriegen, manchmal denke ich, er hat nur Mitleid mit ihr; in ihrem Alter, in ihrer Stellung, da kriegt sie doch keinen vernünftigen Kerl mehr ab.
Leni liebte Vater. Sie vergötterte ihn regelrecht und sah ihn als das Opfer unseres grausamen Schicksals. Die Welt war ungerecht zu Frank, seine Frau, seine Kinder hatten ihm nicht geholfen; er, der edle Ritter, hatte einen Jungen adoptiert, einen verwahrlosten, armseligen und von allen im Stich gelassenen Jungen, und auch der hatte ihm keine Dankbarkeit gezeigt. Leni schaffte es, alle Tatsachen, Erinnerungsfetzen so hinzubiegen, so zu verdrehen, dass sie das Bild ergaben, was sie vom Vater haben, vor allem aber erhalten wollte.
– Sei nicht immer so gehässig. Sie ist gut für ihn.
– Was heißt denn bitte schön gehässig? Sie ist eine ordinäre Nutte. Mehr nicht. Mit ihren blondierten Haaren und ihrem Make-up, als wäre sie in einem verdammten Hollywoodfilm …
Leni wollte noch irgendetwas hinzufügen, aber da läutete ihr Handy; ihr Mann schien verärgert, ob sie vergessen habe, dass der Karateunterricht des Zweitgeborenen ausfalle, und sie solle ihn doch bitte abholen. Leni, völlig panisch, dass
Weitere Kostenlose Bücher