Mein Sanfter Zwilling
Mutter: Ob Frank denn zugesagt habe; Tulja: Ich solle doch bitte Käse vom Feinkostgeschäft mitbringen. Irgendwann schaltete ich das Telefon aus.
– Warum feiern wir, Mama?, fragte Theo gelangweilt und zeichnete irgendwelche Monster auf die beschlagene Fensterscheibe.
– Weil er zu unserer Familie gehört und weil er seit langem nicht mehr bei uns war.
– Und wird er jetzt für immer bei uns bleiben?
– Das wissen wir nicht; er ist doch gerade erst angekommen.
– Ich hab keine Lust auf Andres. Er wird wieder mit seinem Moped nerven.
– Du musst nicht mit ihm spielen, wenn du nicht magst. Außerdem ist ja Alex auch da, und du kannst mit ihm mit den Bausteinen was machen. Das hat dir doch immer Spaß gemacht.
Alex war der mittlere Sohn meiner Schwester und der Erträglichste aus ihrer Familie. Der Erstgeborene, Andres, war ein pubertäres, verpickeltes Etwas, das alle tyrannisierte. Der zweijährige Anton wurde noch wie ein Baby behandelt und durfte nicht mit den anderen Jungs spielen. Dass die Kinder alle einen »A«-Namen trugen, war kein Zufall. Sie sollten den prioritären Stellenwert der Träger markieren.
– Und dürfen wir Boot fahren?, bohrte Theo weiter.
– Dafür ist es zu kalt, und außerdem wird das Meer stürmisch sein.
– Das weißt du doch nicht! Wir sind doch noch gar nicht da!
– Ich bin da aufgewachsen, Theo. Deine Mama kennt sich mit Wasser recht gut aus.
In dem alten Bootsverleih hatten wir immer einige Wochen gearbeitet, bevor wir nach New Jersey flogen; Leni immer in der Frühschicht, Ivo und ich in der Spätschicht. Außer uns arbeiteten da noch andere Jugendliche aus dem Dorf. Ich musste an Harry denken, den Holländer, der als Mechaniker über zwei Sommer bei uns angestellt war und dem ich meine Jungfräulichkeit opferte. Harry, der so blasse Haut hatte, weil er immer in der dunklen Werkstatt hocken musste, und der so angenehm nach Öl roch. Mit Sommersprossen und einer dreckigen Jeans, die am Hintern zerrissen war. Ivo hatte ihn sehr gemocht, und aus lauter Eifersucht hatte ich in dem Sommer, als ich fünfzehn wurde, beschlossen, ihn ebenfalls zu mögen, ihn anders zu mögen, als Ivo es tat. Und nach ein paar Wochen schaffte ich es tatsächlich, dass der achtzehnjährige Harry, der Metal hörte und später zur See wollte, meinen Hintern packte und mich gegen die kalte Betonwand presste. Ich wusste, dass Ivo in der Nähe war, ich wusste, dass er jede Minute in die Werkstatt kommen könnte. Nur deswegen ließ ich mir Harrys ölverschmierte Hände auf meinem Hintern gefallen.
Und Ivo kam herein, als Harry gerade angefangen hatte. Und dann lag Harry in Sekundenschnelle auf dem Boden und hatte Ivos Stiefel an der Kehle. Ich fand mich genauso schnell auf dem Hinterhof wieder, Ivo beugte sich über mich und brüllte mich an. Ich kann mich an den genauen Inhalt seiner Worte nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, dass er Tränen in den Augen hatte.
Zwei Abende danach schlich ich mich aus dem Haus und ging zu Harry, der eine kleine Dachwohnung bewohnte. Ich kletterte den Baum hoch, und als er – immer noch voller blauer Flecken im Gesicht – mir das Fenster öffnete und mich erschrocken ansah, öffnete ich meinen Mantel und zeigte mich ihm nackt.
Wir schliefen in seinem quietschenden, viel zu schmalen Bett miteinander. Er hielt die ganze Zeit meinen Mund zu und gab irrwitzige Laute von sich. Ich empfand nichts außer einem dumpfen Schmerz und das absolute Fehlen von Interesse seinem Körper gegenüber, ich ließ es einfach geschehen und klammerte mich an den Gedanken, Ivo damit zutiefst zu kränken und zu demütigen. Gerade mit meiner Lieblosigkeit, meiner Starre und rein mechanischen Ausführung dessen, das er ganz anders, zärtlich, liebevoll, leidenschaftlich von mir hätte bekommen können.
– Vorsicht!
Ich trat automatisch auf die Bremse und wäre um ein Haar in einen LKW gefahren, wenn ich nicht schnell das Lenkrad gedreht hätte und ausgewichen wäre; zum Glück war kein Wagen hinter uns.
– Tut mir leid, Großer!, sagte ich und atmete tief durch. Der Schreck brachte mich wieder zu klarem Bewusstsein: Durch Ivo war alles ins Schleudern geraten, und ich musste das Ganze wieder zum Stehen bringen, durfte weder Marks noch Theos Leben durcheinanderbringen. Ich versuchte mir die restliche Fahrt über bis zu Tuljas abgelegener Scheune am Strand von Niendorf klarzumachen, dass ich mit Mitte dreißig ein sehr geordnetes Leben führte, eine Mutter war und mich
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