Mein Sanfter Zwilling
morgen Abend zu uns zum Essen. Nadias Überraschungsfeier, du weißt?
Das hatte ich ganz vergessen.
– Gib mir einfach morgen noch mal Bescheid, ich versuche wenigstens kurz aufzutauchen, okay?
– Ist alles okay?
– Ja. Wieso?
– Du klingst so gehetzt.
– Nur der übliche Familienstress. Kennst es ja.
– Okay, ich klingle morgen kurz durch. Versuch zu kommen. Es wäre ihr wichtig. Ja?
– Ich geb mir Mühe. Mach’s gut.
Ich legte auf und schämte mich, dass ich meiner kleinen Familie unterstellt hatte, mich zu stressen. Auch dieses alte Muster kannte ich: dass ich log, dass ich für Ivo log. Ich hatte es so lange nicht mehr tun müssen, und obwohl diese Lüge recht harmlos war, schämte ich mich und wünschte, ich wäre vorher nicht ans Telefon gegangen, wünschte, Tulja, die alte Kuh, hätte mich nie angerufen. Und schon wieder wehrte ich mich dagegen – gegen die Tatsachen. Gegen die Tatsache, ein Leben zu akzeptieren, das außerhalb meiner Vorstellung stattfand.
Ich ging in mein Arbeitszimmer und schaltete den Laptop an. Nach einer Stunde gab ich es auf, saß heulend am Schreibtisch, hielt das Foto meines Sohnes umklammert – als letzten Anker, als letzten Anhaltspunkt –, presste das Gesicht auf die Tischoberfläche, die Augen zusammengekniffen, und war kurz davor, aus voller Kehle um Hilfe zu schreien.
2.
Auch Ivos Ankunft in unserer Familie war ein Ende, mit dem alles anfing.
Seine Mutter, mit der mein Vater ein Verhältnis gehabt hatte – war tot. Sein Vater vorerst im Gefängnis, wo er einige Jahre später auch starb. Und er selbst verstummt – sich weigernd, auch nur ein Wort an jemanden zu richten. Und ich – die Einzige, die seine Sprache verstehen und für ihn sprechen konnte, was auch der einzige Grund war, warum man Ivo bei uns ließ.
Ich war damals sieben und meine Schwester elf.
Unsere Eltern hatten sich gerade getrennt, und meine Mutter zog ziemlich schnell nach der Scheidung in die USA, um für einen großen Pharmakonzern zu arbeiten, wo sie irgendwelche schädlichen Chemikalien zusammenmixte, in der Hoffnung, die Schäden würden eine hellere und gesündere Zukunft rechtfertigen. Und sie zog dahin wegen James, ja, richtig, James, den sie später heiratete. Sie hatte uns vor die Wahl gestellt, und meine Schwester und ich entschieden uns, obwohl aus heutiger Sicht vollkommen unvorstellbar – aus sehr verschiedenen Gründen dafür, bei unserem Vater zu bleiben, obwohl er eigentlich der Hauptgrund dafür war, dass unsere Familie und unser Leben auseinanderfielen. Aber so kam es nun …
Meine Mutter hatte auf das Sorgerecht verzichten müssen, obwohl es ihr zustand, sie war müde, sehr müde. Wir alle waren müde. Wäre sie vor Gericht gegangen, wären wir niemals bei Vater geblieben, das hätte man ihm niemals erlaubt, aber sie entschied sich dagegen. Die Frage – im Falle eines Sorgerechtsstreits –, ob Mutter Ivo bekommen und vor allem, ob sie ihn überhaupt hätte adoptieren wollen, habe ich nie wirklich für mich beantworten können.
So wie man es Vater eigentlich nie hätte erlauben dürfen, Ivo zu adoptieren. Aber merkwürdigerweise blieben wir alle bei ihm.
Meine Schwester hatte sich von meiner Mutter abgewandt – sie konnte nicht begreifen, warum sie einen Mann verlassen wollte, der Grund dafür war, eine Frau zu erschießen, sie blieb bei Papa aus Trotz, denn bis zu dem Zeitpunkt war er ihr mehr oder weniger fremd gewesen. Im Gegensatz zu mir hatte sie als Kleinkind keine allzu starke Bindung zu ihm, sie blieb, um Mutter zu verletzen, der sie nicht verzeihen konnte, dass sie vorhatte zu gehen, dass sie einen anderen Mann lieben lernte, dass sie es in Erwägung zog, für ihr Glück zu kämpfen, im Notfall auch ohne uns.
Ich blieb bei ihm, weil ich Angst hatte, man würde Mama Ivo nicht geben und uns somit voneinander trennen.
Meine Mutter, hysterisch und wie eine Furie kreischend, stritt sich mit unserem Vater; ein Dreivierteljahr dauerte das Kreischen, und am Ende setzte sie sich einfach vor meiner Schwester und mir hin und fragte, wo wir Kinder denn gern leben würden. Heute denke ich, dass es das Ehrlichste und Aufrichtigste war, was sie als Mutter für uns tun konnte: uns unsere Freiheit zu lassen. Uns nicht zwangsweise in die erdrückende Fremde eines anderen Landes zu versetzen. Und trotzdem verzieh es ihr meine Schwester nie, und trotzdem blieb immer ein Loch in mir, eben weil sie uns vor diese Entscheidung gestellt hatte, der wir niemals gewachsen
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