Mein Sanfter Zwilling
abwenden. Üblicherweise trank er seinen ersten Whisky oder Wein gegen zwölf Uhr mittags. Jetzt war es kurz nach zwölf. Er hielt durch. Für mich. Für meine Zukunft, die gefälligst normal und vernünftig zu verlaufen hatte. Vernünftig. Als wäre das Leben irgendeines Tissmars je vernünftig gewesen.
– Wieso also?, beharrte ich und wusste, dass er sich umdrehen, mir den Rücken zukehren und aus der Wohnung spazieren konnte, so wie Mark es getan hatte. Doch er hielt es aus. Er sah mich zwar nicht an, aber ich spürte, dass er da war, dass er ganz da war mit seinen Gedanken, mit seinem Drängen.
– Sie war eine wunderbare Frau, flüsterte er, und sein Ton wurde mild, das Raue in der Stimme verschwand.
– Was hat sie dir gegeben?
– Was sie mir gegeben hat? Das Gefühl, unersetzlich zu sein?
– Hat dir Mama das nicht geben können?
– Ach, Stella. Diese Fragen. Es ist nicht so einfach. Sie hat es versucht. Wir haben es beide versucht. Wir haben viele Jahre zusammen verbracht, aber irgendwann ging es nicht mehr.
– Und Emma. Wie war sie so?
– Du erinnerst dich doch an sie.
– Ja, ich erinnere mich an ihr Aussehen, an ihre Stimme und die Kleider, die sie trug. Aber ich kannte sie nicht. Sie war immer so abwesend, als würde sie sich um nichts in der Welt sorgen.
– So hast du sie wahrgenommen?
– Irgendwie schon.
– Sie war sehr leidenschaftlich, falls man es so sagen kann, auch wenn man es ihr nicht ansah. Man musste ihr Zeit lassen, tief in sie hineinsehen. Sie war nicht leicht zu durchschauen. Gesprochen hat sie nie viel. Aber wenn sie etwas sagte, war es meist sehr bedacht. Auf eine sehr eigenwillige Art und Weise klug.
– Du hast damals gesagt, dass es zwischen uns, dir und Mama und mir und Leni, immer so bleiben würde. Erinnerst du dich an diesen einen Abend, als wir angehalten haben auf dem Rückweg von Emma nach Hause, und ich dich fragte, ob du gehen würdest, und du gesagt hast, dass du Mama nie verlassen und niemals weggehen würdest?
– Lass uns damit aufhören. Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass du einen Fehler machst, wenn du dich wieder auf Ivo einlässt.
– Das habe ich verstanden! Das musst du mir nicht sagen! Du hast es so weit gebracht, dass man sie erschossen hat.
Ich war zu weit gegangen, seine Unterlippe zitterte, als er mich ansah. Er ging an mir vorbei in die Küche zurück, holte seinen Mantel. Ich folgte ihm.
– Es tut mir leid.
Ich hatte ihn eingeholt und hielt seinen Rücken mit meinen Armen umklammert, damit er blieb. Ich schloss die Augen und barg mein Gesicht in seinem breiten Kreuz. Er fühlte sich so stark an, so viele Orte gab es auf seinem Rücken, wo ich mich hätte verstecken können – sicher, warm und geborgen. Wie damals, als er mich auf den Rücksitz seines Fahrrads schnallte und losraste – schnell, die Wege kennend, seiner so sicher.
Damals hatte es keine Zweifel gegeben.
– Ich hab es nicht so gemeint, flüsterte ich in seinem Rücken. Er drehte sich um, presste mich an sich. Ich liebte es, wenn er mich in die Arme nahm; alles andere schien zu schwinden. Er sah auf mich herunter und streichelte die kleinen Härchen, die mir in die Stirn hingen.
Er liebte mich. Er hatte mich immer geliebt, und doch hatte die Liebe nie ausgereicht. Sie schien nie auszureichen. Immer war sie zu viel oder zu wenig.
– Du bist mir wichtig. Vielleicht wichtiger als alles andere auf der Welt, und ich habe jetzt wirkliche Angst um dich. Als du klein warst, ganz klein, waren wir immer Partner. Du und ich, ein Team. Ich war stolz darauf. Gesi war ein bisschen eifersüchtig, und auch Leni wirft es mir bis heute vor: dich bevorzugt zu haben. Aber das ist es nicht, das war es nicht. Es ging nicht um Vorzüge. Es ging darum, dass du so entschlossen warst zu leben. Dass du so viel gewollt hast. Ich liebte das an dir, aber es ist eben manchmal auch nicht gut. Ivo ist anders. Ich bin damit durch. Ich möchte den Rest meiner Tage in Ruhe verbringen. Alles andere ist Zeitverschwendung.
Vater klopfte mir auf dem Rücken und küsste mich auf die Schläfe. Dann löste er sich von mir und ging. Ich stand wie angewurzelt da, und die Gedanken in meinem Kopf verwandelten sich mehr und mehr zu einem Brei.
Noch lange nach meiner Liebeserklärung am Strand hat Ivo mich ignoriert. Ivo schloss die Schule ab und reiste in die USA, zu Gesi, während ich noch in Tuljas Schuppen jobbte – Leni war schon vor drei Jahren ausgezogen, um in Berlin ihr Studium anzufangen. Er
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