Mein Sanfter Zwilling
seinen Großeltern zur Schule befördert worden; Mark saß bestimmt im Studio. Ich hatte schwarze Augenringe, und meine Nase lief.
Am Boden stand eine halbleere Ginflasche, und neben mir lagen Zigaretten. Mein Handy läutete. Ich starrte an die Decke. Im Wohnzimmer lief die Anlage und spielte La Traviata , eine uralte CD, die mir Tulja geschenkt hatte. Ich hatte von Opern keine Ahnung, aber mein Leid schien gerade diese Pompösität zu brauchen. Das Läuten hörte nicht auf. Es war eine unterdrückte Nummer.
– Stella?
Ich presste das silberne, kalte Teil gegen meine Ohrmuschel und schwieg. Es war Frank.
– Was ist los?
– Nichts.
– Doch. Ich möchte dich sehen. Ich bin in der Nähe, bist du noch eine Zeit lang zu Hause?
– Nein.
– Doch. Ich möchte, dass du bleibst. Okay? Ich bin in zehn Minuten da.
Ich setzte mich abrupt auf. Wieso ließen sie mich nicht in Ruhe?
Ich hatte mir gerade das Gesicht gewaschen und ein wenig Creme aufgetragen, als es schon klingelte. Ich versteckte die Ginflasche, holte tief Luft und drückte auf den Türöffner.
Die Eingangstür unten ging auf, und ich hörte die schweren Schritte meines Vaters und seinen schweren Atem.
Ich ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Er kam rein, warf seinen Regenmantel auf den Boden und setzte sich auf die Couch, die einzige Sitzmöglichkeit, auf die er noch passte.
– Ist Theo nicht da?
– In der Schule.
– Ist Mark weggefahren?
– Papa, was soll die Frage? Er ist im Studio.
– Ist er ausgezogen?
– Was? Wie kommst du darauf?
– Im Flur stehen keine Turnschuhe.
Mark ging abends fast immer joggen.
– Warum bist du hier?
– Ich habe gestern Ivo gesehen.
– Und deshalb bist du hier?
– Stella, ich bin dein Vater, ich möchte dir beistehen, egal, was immer du auch gerade durchmachst, aber du musst wissen, was du tust. Mach mir einen Espresso. Hast du wieder geraucht?
Er hatte den halbvollen Aschenbecher auf der Spüle entdeckt.
Ich flüchtete mich in Geschäftigkeit und stellte zwei Teller auf den Küchentisch. Die Möhre lag immer noch da, ich traute mich nicht, sie wegzuwerfen. Ich hatte sie aus dem Korb genommen, und nun lag sie da einsam auf dem Tisch und sah noch erbärmlicher aus. Vater fixierte mich mit seinen tiefliegenden Augen, und es machte mich verlegen.
Ich reichte ihm die kleine Tasse und legte ihm ein Stück Käsekuchen auf den Teller. Den Kuchen, den Mark für Theo besorgt hatte, für seinen Sohn, der es verdiente, nach dem Fußballtraining etwas Süßes zu bekommen. Dinge, an die ich nicht dachte.
Jeder Gegenstand in der Wohnung schien mich an Dinge zu erinnern, die ich vergessen hatte: frisches Obst, frisches Gemüse. Alles schien so friedlich, alles schien so besorgniserregend perfekt. Die polierten Bodenkacheln, die ordentlich gestapelten Zeitungen neben der Couch, die gebügelten Hemden auf dem Hocker, die abgewaschenen Tassen. Und mittendrin ich. Ich, die all das kaputtmachte, die all das über den Haufen werfen wollte, die all die Mühe nicht zu bemerken schien, die in diesen Details steckte; ich, die Rabenmutter, ich, die Frau, die nach dem Gespräch mit ihrem Mann besoffen zu einem anderen fährt, in eine billige Absteige, und mit ihm schläft; die Journalistin, die ihren Job nicht erledigt, die von Dingen redet, die keiner versteht und die keinen interessieren.
Wie leicht es doch sein musste, mich zu verurteilen.
Frank pustete auf die heiße dunkle Flüssigkeit in seiner Tasse. So saß er da, der alte Pascha, der Mann, der all die Jahre kein Wort über diesen Nachmittag verloren hatte, der sich von seiner Schuld freigekauft, sein Gewissen reingewaschen hatte, indem er den Jungen aufnahm, um ihn an seine Tante weiterzugeben. Der seine Schuld in Whisky ersäufte und im Schoß der Frauen zu vergessen suchte. Der Mann, der uns die Kindheit geraubt hatte.
Eine Taube ließ sich auf dem Balkon nieder und gurrte. Die Welt da draußen lebte und streckte sich der Sonne entgegen, während ich mich vor ihr versteckte.
– Papa?
Ich sah ihn an und hielt kurz inne, ich überlegte mir, ob ich das sagen sollte, was ich sagen wollte, schließlich setzte ich erneut an:
– Ist dir eigentlich klar, was vor sich geht? Was vor sich gegangen ist all die Zeit? Was mit Ivo und mit mir vorgegangen ist? Was denkst du dir? Ich möchte wissen, was du dir all die Zeit gedacht hast?
– Geht es darum? Geht es um mich?
– Um dich? Um dich? Nein, es geht um uns alle, ob wir wollen oder nicht, wir sind
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