Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
Vom Netzwerk:
wir unsere Abende am Meer verbrachten und unendlich viel Platz für unsere Träume fanden.
    – Stella, setzte er an und sah mich zum ersten Mal seit seiner Ankunft richtig an. Das, was war, war falsch. Ich will, dass du damit aufhörst, so distanziert zu sein, und dass wir wieder Freunde werden.
    Ich wünschte mir die Ungewissheit jenes Sommers, die Stille zurück, alles schien besser als das, was er mir sagte.
    – Ich bin nicht deine Freundin, und deine Schwester bin ich auch nicht.
    – Wie du willst.
    Beleidigt erhob er sich.
    – Ivo.
    Ich sprang auf und nahm meinen ganzen Mut zusammen. Ich stellte mich vor ihn hin, er überragte mich um einen Kopf. Ich fühlte mich klein und elend.
    – Geh nicht mehr fort.
    Ich kaute an meinem Daumen und sah ihn flehend an. Sein Blick verriet mir nichts.
    Er nahm mich in die Arme und küsste mich auf die Schläfe, und dieser Kuss schien so kalt, so demütigend, dass ich einen Schritt zurücktrat und seine Arme von meiner Taille wegzog.
    Eine Möwe kreischte in der Dunkelheit auf.
    Im folgenden Jahr gingen wir uns aus dem Weg. Tulja hatte sich an unsere Schroffheit gewöhnt und stellte keine Fragen mehr, sie schrieb es dem Erwachsenwerden zu, sie schrieb es meiner Sturheit und Ivos Stolz zu.
    Ivo blieb immer öfter über Nacht weg. Er kam im Morgengrauen zurück, und ich erinnere mich an keinen einzigen Morgen, an dem ich, auf ihn wartend, nicht wach gelegen hätte. Ich wartete darauf, dass er ein Mädchen mitbrachte, aber das passierte nie. Er trank, hörte Musik und kiffte ab und zu mit seinen Kumpels, die alle grob und ungepflegt, jenseits jeder Kultiviertheit waren, jedenfalls im Vergleich mit Ivo und seinem angeborenen Charme.
    Ich ging ein. Ich wurde schlecht in der Schule und aß kaum. Tulja schickte mich öfter nach Hamburg zu Vater, oder er verbrachte die Wochenenden im Dorf. Auf ihre liberale Art versuchten die beiden, mich umzustimmen, und sprachen von guten Noten und Berufschancen.
    Ich werkelte in der Scheune herum oder verbrachte die Abende allein am Strand.
    Sogar Leni mischte sich ein und erzählte von ihrem tollen Berlin und ihrem tollen Studium dort, damit ich wieder mehr für die Schule tat.
    Nach seinem Schulabschluss hatte ihn keiner mit Fragen gelöchert, wie er sich denn seine Zukunft vorstelle; er war sich seiner sicher, die Familie ließ ihn in Ruhe. Als ob er niemals Fehler machen, niemals scheitern könne.
    Immer wurde ihm der Bonus der Andersartigkeit zugesprochen.
    Er ging nach Kiel, wo er in einem Krankenhaus Zivildienst leistete und mit einem dauernd kiffenden Typ namens Alex in einer verdreckten Bude hauste. Ich ertrug die Leere kaum, die sein Zimmer ausstrahlte, das ich immer heimlich betrat, wie einen heiligen Tempel, mir immer wieder ansah, nach seinen Spuren suchend, danach, was ihn antrieb, was ihn immer weiter von mir forttrieb. Ich war auf jedes Foto von ihm eifersüchtig, das ohne mich gemacht wurde, auf jeden Ort, den er ohne mich erblickte, auf jeden Menschen, dem er seine Aufmerksamkeit widmete.
    Ab und zu telefonierte er mit Tulja, selten sahen wir uns zu Familienfeiern oder zu Weihnachten. Da schien er immer schöner, größer, reifer geworden zu sein und ich in meiner einsamen, maroden Dürre immer welker und trauriger zu werden.
    Mein Haar wuchs bis zur Taille, und meine Fingernägel waren nicht mehr bis aufs Blut abgekaut, und meine Haut schien nicht mehr so blass und meine Brüste nicht mehr so fremd an meinem Körper, aber all das änderte nichts daran, dass egal was ich tat und wie ich mich gab, er besser, schöner, weltmännischer wirkte. Alle mochten ihn, seinen Witz, seine scheinbare Schwerelosigkeit, seine spitzbübische Art und seine Heiterkeit, während ich immer mehr zum Problemfall der Familie heranwuchs und lauter Scherben hinterließ, die meine Familienmitglieder hinter mir aufzusammeln versuchten. Denn nur mit Müh und Not schaffte ich das Abitur. Man schickte mich nach Newark zu Gesi. Ich sollte mich neu orientieren, aber meine Mutter – alarmiert und besorgt – machte einen Fehler nach dem anderen, indem sie mir jeden Tag Predigten hielt und mich damit immer weiter von sich entfernte.
    Ich hing herum, beschaffte mir Marihuana, band mir schmale Zöpfe um den Kopf herum und lackierte mir die Fingernägel schwarz.
    Ich lernte alle möglichen Davids, Pauls und Joes kennen, da ich jeden Tag zu irgendwelchen Kursen auf den Campus geschickt wurde, denn meine Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, mir einen

Weitere Kostenlose Bücher