Mein Sanfter Zwilling
Studienplatz in New Jersey zu verschaffen. Ich langweilte mich, ging mit den Jungs zu hirnlosen Partys und kehrte erst im Morgengrauen nach Hause zurück. Ab und zu blieb ich über Nacht bei David, Paul oder Joe. Ich stellte fest, dass sich die Trauer durch Sex eine Zeit lang stillen ließ. Aber dann hinterließen die Nächte eine nur noch größere Leere in mir, und ich schwieg an solchen Tagen die ganze Welt an, sah in ihre Fischaugen und empfand nur Verachtung.
Gesi, James und ich in Florida. Auch daran erinnere ich mich. An irgendeinen krampfhaften Zeitvertreib, den meine Mutter für mich organisierte. Es war trocken und träge und lau, es fehlte das Leben in all den Monaten.
So kam ich wieder nach Europa zurück und verkroch mich in den alten Räumen von Tuljas Haus. Sie kochte mir Kräutertees und legte feuchte Handtücher auf meine Stirn, als wollte sie mir alle Dämonen austreiben und mir ein neues, ein prächtiges, ein starkes Leben einflößen. Damit mein Blut wieder anfing zu fließen, damit meine Wangen wieder Farbe bekamen.
Ich sehnte mich nach Ivo und hasste ihn dafür. Dafür, was nicht aus mir geworden war, weil er nicht bei mir geblieben war.
In jenem Herbst traf ich Abi. Abi kam aus Persien und war in Hamburg aufgewachsen. Wir lernten uns in einem Café in St. Pauli kennen, wo ich mit einem Buch saß und die Welt anschwieg. Anfangs ging er mir auf die Nerven, aber seine Beharrlichkeit imponierte mir, und sein exotisches Aussehen zog mich an. Ich gab nach, und wir zogen weiter, trinkend, redend und lachend.
Abi studierte alte Sprachen und war ein leidenschaftlicher Fotograf. Es gibt unzählige Fotos von mir: im Schlafzimmer, in verschiedenen Cafés, auf irgendwelchen absurden Veranstaltungen, die wir gemeinsam besuchten. Diese Fotos sind die schönsten, unbeschwertesten Fetzen meiner Jugend.
Er verliebte sich in mich, und ich genoss das Gefühl. Das Gefühl, gebraucht zu werden, hauchte mir wieder ein wenig Leben ein und, bestärkt durch meine besorgte Familie, marschierte ich in Abis Leben hinein.
Seine Haut war dunkel und schimmerte wie Katzenfell im Mondlicht. Er war ein Mann voller Zärtlichkeit und der ungewöhnlichen, schnörkeligen Worte.
Wir landeten in seiner kleinen Wohnung im Karoviertel, das damals gerade von Künstlern entdeckt und besetzt wurde und wo alles nach Andersartigkeit schrie.
Es war eine neue Welt für mich, und ich ließ mich hineingleiten – mich sanft herantastend, streichelnd, liebkosend. Es war ein Herbst voller Versprechen, ein Herbst der sich wieder öffnenden Lider.
Abi kaufte mir frische Croissants und fütterte mich mit kleinen eingelegten Artischocken. Er zitierte aus dem Hohen Lied und erzählte mir, dass meine Brüste aussähen wie zwei schwangere Forellen und dass mein Hals nach Zypressen dufte; dass meine Arme so schön seien wie die von ägyptischen Mätressen und meine Knie unschuldig. Und ich lachte und lachte. Bei jedem anderen Menschen wären solche Sätze undenkbar gewesen, aber die Art, wie er sie sagte, rührte mich.
Durch Abi lernte ich viele Menschen kennen: Studenten, Künstler, Überlebenskünstler und Verrückte. Wir feierten bis in den frühen Morgen, und ab und zu fuhren wir zu Tulja und blieben übers Wochenende da. Tulja nahm ihn sofort auf, nicht so bemüht freundlich wie Vater und nicht so skeptisch wie Leni. Wenn es warm genug war, gingen wir schwimmen und schliefen miteinander in meinem kleinen Bett, das ächzte und stöhnte und sich über unsere Liebesspiele beklagte.
Ich denke, in der Zeit fand ich meine Ruhe; Abi gab mir wieder ein wenig Selbstbewusstsein zurück. Ich begann mir Gedanken über meine Zukunft zu machen und schrieb mich an der Universität für Anglistik, Vergleichende Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte ein. Ich entdeckte Spaß. Am Leben. Grundlos. Jenseits aller Erinnerungen.
Meine Haare steckte ich zu einem altmodischen Knoten hoch, und meine Lider schminkte ich schwarz. Ich kaufte mir Baskenmützen in verschiedenen Farben. Meine Hosen tauschte ich gegen knielange Bleistiftröcke ein, die ich auf Flohmärkten fand, und begann Tuljas Perlenketten zu tragen. Ich las alles, was ich in die Finger bekam: Baudelaire, Kafka oder Sylvia Plath.
Abi hatte einen dicken Kater namens Xerxes, ich nahm ihn zu mir auf die alte Couch, wickelte mich in eine dicke Decke ein, wenn die Heizung mal wieder aussetzte, und tauchte ab, das Lesen, die Luckys und meine Jugend zelebrierend. Ich liebte diese Stunden. Sie waren
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