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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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seinem Weg ab, machte nur einen kleinen Schlenker: zu mir, in diese Stadt, zu seiner Familie. Er würde mich, uns, die Stadt bald wieder verlassen.
    Ich würde aussteigen müssen. Ich würde alles, einfach alles hinter mir lassen und gehen müssen. Wirklich gehen. Gedanken würden Realität werden, und Worte würden neue Orte formen.
    Ivo lebte schon immer ein Nomadenleben, er arbeitete als freier Reporter für große Zeitungen und Sender, und zwar rund um den Globus. An Orten, die für mich alle einen magischen Klang besaßen, aber meiner Vorstellungskraft entzogen waren.
    Jetzt verspürte ich eine merkwürdige Leichtigkeit, eine Erleichterung: Ich würde Theo wiedersehen, bald würde ich all das vergessen und in mein altes Leben zurückkehren, nichts anderes war denkbar; fähig war ich, mit Ivo Nächte durchzudiskutieren, mit ihm zu schlafen. Aber nur in Gedanken war ich fähig, fortzugehen, in Wahrheit brachte ich es nicht fertig, von Hamburg, von meinem Sohn, von meinem Mann wegzugehen.
    Schnell hatte ich die richtigen Argumente parat: Woher sollte ich das Geld nehmen? Ich verdiente zwar als freie Mitarbeiterin recht gut, aber es würde niemals reichen zum Leben, ganz zu schweigen davon, den Lebensstil, den ich gewohnt war, aufrechtzuerhalten. Alles, was ich an Luxus genoss, ermöglichte Mark. Wenn ich aus Hamburg wegginge, für eine unabsehbare Zeit, dann müsste ich den Job aufgeben. Ich würde mich in eine doppelte Abhängigkeit von Ivo begeben, und dieser Gedanke tötete meine plötzliche Sehnsucht schlagartig ab.
    – Was für eine Recherche?, fragte ich meinen Vater und wollte fast schon auflachen: Alles schien sich zu klären, keine Frage schrie mehr nach Antwort. Logisch und rational gedacht war jede Option, Ivo zu folgen, schon im Ansatz erstickt, und ich verspürte einen Impuls, meinem Vater um den Hals zu fallen und ihm zu danken – dafür, mich vor meinem eigenen Wahnsinn gerettet zu haben.
    – Im Kaukasus. Er macht eine Reportage über einen Musiker, einen politischen Flüchtling. Er ist Feuer und Flamme für die Sache, er sei etwas Großem auf der Spur.
    – Und was hat er noch erzählt?
    – Ach, alles Mögliche. Über Amerika. Über Gesi.
    – Und was sagte er?
    – Frag ihn doch selbst. Du siehst ihn bestimmt häufiger.
    – Was soll das heißen?
    – Keine Ahnung. Schau dich doch an. Du bist vollkommen neben der Spur. Du denkst, du kannst so einfach alles aufgeben und die alte Geschichte wieder aufrollen. Und übersiehst dabei, was für einen kolossalen Fehler du machst.
    Seine Stimme war ruhig und selbstsicher. Genauso wie an dem Tag, als er das Fahrrad angehalten und mir versichert hatte, uns immer zu lieben und niemals wegzugehen. Damit ich weiterhin für ihn log, damit alles gut blieb. Damit nichts ins Schwanken geriet. Ich schwieg und horchte dem Klang der Kirchenglocken nach, den der Wind hertrug, als wolle er das Echo festhalten.
    Vater sagte nichts mehr. Er zündete sich eine Zigarette an und sah in die Ferne. In Gedanken versunken standen wir da und schwiegen. Schweigen schien ein stets funktionierendes Mittel zu sein, das uns von Kanten fernhielt, die in unsere Wirbelsäulen schnitten.
    – Hast du sie geliebt?, fragte ich ihn und legte meine Hand auf sein Handgelenk.
    – Wen?
    – Gesi.
    – Was ist das für eine Frage? Sie ist eure Mutter.
    – Ob du sie geliebt hast. Und wann hast du sie nicht mehr geliebt. Ich meine, die Frage hat nichts damit zu tun, ob sie unsere Mutter ist oder nicht.
    – Natürlich habe ich sie geliebt, warum hätte ich mir sonst von einer Frau Kinder gewünscht.
    – Aber du hast sie verlassen. Ich meine, lange bevor das alles passierte, hattest du sie schon verlassen.
    – Wir haben uns beide verändert. Es gab nichts Gemeinsames mehr.
    – Und hatte Emma viel Gemeinsames mit dir?
    Der Name war, so schien es mir, schon seit Jahrhunderten vergessen. Man sprach ihn nicht aus, wie man in heidnischen Stämmen den Namen des Kriegsgottes nicht erwähnte. Ich sah sofort die kleine, hagere Frau vor mir, in Nylonstrümpfen und mit Schleifen im Haar.
    – Nein, sagte Vater, und sein Ton wurde hart.
    – Und wieso bist du dann so lange bei ihr geblieben?
    – Was sollen diese Fragen, Stella? Du verhältst dich kindisch! Es geht darum, dass du Dinge tust, die du nicht tun solltest. Meine Vergangenheit tut nichts zur Sache.
    – Sie ist auch meine Vergangenheit, verdammt!
    Er schüttelte den Kopf, und die Sonne blendete ihn kurz.
    Ich konnte den Blick nicht von Vater

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