Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
Vom Netzwerk:
aneinandergekettet wie verdammte Schlittenhunde.
    – Stella, komm, setz dich zu mir. Du siehst nicht gut aus, ganz und gar nicht. Und dass du nun mit all dem anfängst, ist auch nicht gut. Klar, das Ganze musste von vorne losgehen, wenn er wiederkommt. Er kann nicht anders. Ich kann ihn sogar verstehen. Er wird es überstehen, so oder so. Aber du, du bist nicht so gebaut, du schaffst es nicht, du wirst am Ende liegenbleiben, wirst dich umsehen und feststellen, dass alles zerstört ist. So wie damals. Aber damals kam Mark und richtete dich wieder auf. Diesmal wird er nicht mehr kommen.
    Ich sah ihn betroffen an und fragte mich, wie er so ruhig sitzen und reden konnte, als ob er mit all dem nichts zu tun hätte. Er klopfte ungeduldig mit der Handinnenfläche auf die Couch, er wartete, dass ich mich zu ihm setzte. Der Gedanke erschien mir unerträglich. Ich setzte mich vor ihn auf den Hocker.
    – Stella, du bist eine Frau, du hast Familie, du bist Mutter, reiß dich also zusammen!
    Er war laut geworden, und ich konnte nichts dagegen tun, dass seine Stimme mir nach wie vor Furcht einflößte, wenn sie so laut und eisig wurde.
    – Du darfst die Fehler deiner Mutter nicht wiederholen!
    Bei dem Satz sprang ich auf und ging auf ihn zu. Ich stellte mich vor ihn hin und sah auf ihn nieder. Meine Angst war plötzlich wie weggeblasen.
    – Meiner Mutter? Die Fehler meiner Mutter? Wer bitte hat ihr denn alles genommen? Wieso reden wir zur Abwechslung nicht mal darüber? Sie wagte sich erst wieder nach Deutschland, als ihre Eltern starben, so fertig war sie, und du sprichst von ihren Fehlern ?
    Meine Stimme zitterte, und ich kämpfte um Fassung, ich wollte nicht weinen vor ihm, nicht jetzt. Meine Kehle fühlte sich trocken und rau an. Ich stürzte den heißen Kaffee herunter und merkte, wie mein Hals anfing zu brennen.
    – Wieso sagst du das? Er sagte es fast flüsternd.
    – Ich bitte dich. Als ob du das nicht wüsstest. Ich sah ihn an und hielt seinem Blick stand. Er hatte graugrüne Augen und die schweren Lider einer Schildkröte, lebensweise und lebensmüde Augen, die alles schon gesehen hatten, die nichts mehr erwarteten. Ich wollte ihn bemitleiden, aber ich ließ es nicht zu; ich konnte mir jetzt kein Mitleid leisten.
    – Ich brauchte Ivo, ich brauchte ihn um meinetwillen, und willst du wissen, wieso? Damit ich überhaupt wusste, wer ich bin. Nach dem, was war, nach dem, was uns passiert ist, was wir getan haben. Ich brauchte ihn, weil er diesen ganzen Scheiß hinter sich gelassen zu haben schien. Zumindest dachte ich das damals.
    – Aber das ist nicht so, Stella, das habe ich dir all die Jahre zu erklären versucht. Es ist sein Selbstschutz und seine Achillesferse zugleich. Wieso siehst du das nicht?
    – Ich sehe es. Jetzt tue ich das. Ich konnte trotzdem mit ihm glücklich sein. So oder so.
    – All die Drogengeschichten, dieses ganze Hin und Her, die Aggressionen, zwei Verlorene, zwei zutiefst unglückliche Menschen, was hat dich bitte schön glücklich gemacht?
    – Das Gefühl, das er mir gab.
    – Was gab er dir denn? Was, um Gottes willen, Stella, das es wert ist, dass du alles, einfach alles um dich herum zerstörst?
    – Ich werde so nicht weitermachen können.
    Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging auf den Balkon, um nicht in Tränen auszubrechen. Eine Weile blieb er auf der Couch sitzen, dann kam er zu mir raus. Die Taube war weggeflogen, und die Frühlingssonne erwärmte mein Gesicht, meine Schultern. In der Sonne sah ich, wie blass meine Haut war. In der Ferne läuteten die Glocken. Im Hafen tutete ein Schiff. Vater stellte sich neben mich, stützte sich auf das Geländer und berührte mit seinem Ellenbogen meinen.
    Ich verspürte eine schmerzhafte Sehnsucht nach Theo, nach seiner weichen, verschwitzten Haut, wenn er aus dem Training kam, nach seinen klebrigen Fingern, nach seinen feuchten Lippen, nach seinem dichten, wuscheligen Haar, durch das man so gut mit den Fingern fahren konnte.
    – Ivo wird bald abreisen. Er macht eine größere Recherche. Er muss in den Osten.
    Ich schreckte auf. In all dem Chaos hatte ich die einfachen Tatsachen vergessen: dass Ivo ein eigenes Leben führte, dass er Dinge zu tun hatte, dass er in seiner Welt weiter funktionierte. Ich war es, die aufgehört hatte, mein normales Leben zu führen. Er war in seiner Welt geblieben und lud mich dahin ein – er hatte keineswegs vorgehabt auszusteigen. Diese plötzliche Erkenntnis machte mich wütend. Er wich kein bisschen von

Weitere Kostenlose Bücher