Mein Sanfter Zwilling
okay. Lass uns von hier verschwinden.
Er ging zu einer Telefonzelle, telefonierte mit irgendjemandem, und dann setzten wir uns auf sein Moped, ich mit Xerxes’ Box auf meinem Schoß, mit einer Hand mich an seinen Rücken klammernd, und fuhren los.
In einem kleinen Zimmer einer Altbauwohnung, irgendwo außerhalb der Stadt, entdeckte ich dann Ivos Spuren: unzählige Bücher, Notizhefte, Klamotten, die überall rumlagen, schmutzige Kaffeebecher, Kassetten und ein Foto von Tulja als junge Frau, das ich nicht kannte.
– Die Wohnung gehört einem Freund von mir; ich miete hier das Zimmer. Aber es ist weit draußen, und manchmal komme ich nachts nicht mehr raus …, sagte er entschuldigend, und es war der erste freundliche Satz, den er an dem Tag an mich richtete. Xerxes schlief übermüdet vor Aufregung und Angst sofort in der Ecke ein.
Er machte mir ein Brot mit Käse und holte Bier aus der Küche. Ich nahm einen Schluck, und der Alkohol schlug wie eine Bombe in meinem zermarterten Gehirn ein. Ich fiel rückwärts auf die Matratze und streifte mit meinem Arm die kahle Wand. Er saß neben mir und sah auf mich nieder. Ich sah noch das Schwanken in seinem Blick, die Unentschlossenheit zwischen Gier und Angst, die bei ihm der Verachtung so sehr ähnelte. Dann legte er sich zu mir und nahm mich in die Arme. Kurze Zeit lag ich so da, bewegungslos, erstarrt vor Anspannung, Übelkeit und Lust. Dann krallte ich mich an ihm fest und presste meinen Mund auf seinen.
– Du denkst, ich bin bequem und träge. Du denkst, ich will Antworten von dir, flüsterte ich und zog ihn aus. Er küsste mich, und immer noch schien es mir schier unmöglich, dass sein Körper sich meinem nicht entzog. Er legte mir seine Hand auf den Mund und biss in meinen Hals, es tat weh, aber der Schmerz erregte mich, und ich quetschte mich unter ihn, presste mich an ihn, verwandelte mich in einen Draht, der sich beliebig biegen konnte.
In der Dunkelheit sah ich Xerxes’ Augen auf mich gerichtet; ich schauderte, kurz schien mir, dass Abi mir zusah. Ich setzte mich auf und betrachtete Ivos schweißgebadeten Körper.
– Ist sie deine Freundin?, fragte ich ihn. Er hielt die Augen geschlossen.
– Nein, sie ist nur eine Freundin.
– Mit der du schläfst?
– Ja, manchmal.
– Liebst du sie?
– Machst du dich lustig über mich?
– Wieso? Ist es dir nicht gestattet zu lieben?
– Sicherlich ist es mir gestattet, aber ich tu es nicht.
– Liebst du niemanden?
– Frag mich nicht solch dumme Sachen.
– Ich will zu dir.
– Das geht nicht, das weißt du.
– Wieso hast du solche Angst? Hast du Angst vor Frank, vor Tulja?
– Ich habe keine Angst. Und wenn, dann allein vor mir.
– Wieso vor dir?
Abrupt setzte er sich auf. Wischte sich mit dem Laken die Schweißperlen von der Stirn und presste sich an mich. Dann umarmte er meinen Rücken, vergrub sein Gesicht in meinem Hals und flüsterte mir ins Ohr:
– Stella, hör mir zu. Ich versuch es dir zu erklären, okay? Und du musst es verstehen, weil du du bist und es musst. Du hast keine andere Wahl, du musst es nur wollen.
Er sprach zu mir, als wäre ich ein Kind und als würde er seine Gereiztheit überwinden und sich bemühen, mir etwas zu erläutern: geduldig und so simpel wie möglich.
– Es ist passiert, was passiert ist. Und zufällig waren wir gemeinsam da, an dem Ort, zu dem Zeitpunkt. Du warst da. Und wir sind schlagartig erwachsen geworden. Das heißt, dass wir in diesen Minuten, an diesem Tag uns entscheiden mussten. Natürlich ohne dass wir es damals wussten: Wir mussten uns entscheiden, um zu überleben. Wie eine Münze, die nur auf eine Seite fallen kann. Ich meine, die beiden Seiten bilden ja die Münze, aber trotzdem können sie niemals auf der gleichen Seite sein, gleichzeitig sein. Und so was Ähnliches ist auch mit uns geschehen: Du hast rechts genommen, ich links, oder andersrum, ist auch egal. Die Wege führen am Ende zu einem gleichen Punkt, und doch können sie nicht parallel verlaufen, sie müssen unterschiedliche Richtungen nehmen, damit der Punkt, der Endpunkt entsteht, verstehst du? Das passierte damals. Genau das. Und es war richtig. Ich verstehe nicht, wie du denken kannst, dass du mir in irgendeiner Weise gleichgültig bist. Du hast an dem Tag mein Leben gerettet, und gleichzeitig hast du es zerstört. Das ist es, Stella. Das ist passiert. Ohne dich wäre ich nicht gezwungen gewesen, mich zu entscheiden, ohne dich wäre ich stumm geblieben. Aber ohne dich wäre ich
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