Mein Sanfter Zwilling
vielleicht auch nicht … Es ist so, als wären wir durcheinandergeraten. Als hätte es einen gewaltigen Knall gegeben. All unsere zukünftigen Chancen, all unsere Möglichkeiten, die Eventualitäten, die Abweichungen, die gesamte Zukunft sind durcheinandergewirbelt worden und wieder runtergerasselt. Und nun sind wir damit beschäftigt herauszufinden, welche der Eigenschaften, welche der Möglichkeiten, welche der Zukunftsentwürfe dir gehören, welche mir. Pst, unterbrich mich nicht, sag noch nichts, ich muss zu Ende denken, zu Ende sprechen, weil ich nicht weiß, ob ich es je wiederholen kann, das alles. So ist es Stella, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Ich weigere mich, ein Leben zu leben, das nicht meines ist. Es ist für mich unendlich wichtig zu wissen, dass das Leben, das ich lebe, mir gehört, nur meins ist. Denn es gibt vieles in meinem Leben, was sich geliehen anfühlt. Es ist mir wichtig zu wissen, dass es mich jenseits dieses Nachmittages gibt, dass nicht jede Zelle in mir davon geprägt ist. Wenn du bei mir bist, dann kann ich es nicht mehr unterscheiden. Dann gerät alles wieder durcheinander. Der Wirbel hat auch unsere Innereien ausgetauscht. So erscheint es mir. Ich sehe immer den Knall vor mir, wenn du bei mir bist, und manchmal sehne ich mich danach, ich muss ihn manchmal vor mir haben, damit ich mich erinnere, damit ich weiß, wer ich bin. Aber ich ertrage das nicht immer. Nicht immer, Stella.
Ich sagte nichts, schwieg während seines langen Monologs. Befreite mich dann aus seiner Umarmung. Er sträubte sich nicht. Ich hatte all das nie hören wollen.
– Und was machen wir mit allem, was in uns durcheinandergekommen ist, unserem Inneren?, fragte ich kalt.
– Ich weiß es nicht. Wir können es wieder rausnehmen und uns gegenseitig einpflanzen. So eine Art gegenseitige Operation.
– Das will ich nicht. Das wäre grässlich.
– Ich denke nicht, dass wir die Operation überleben würden.
– Also?
– Also wird es wehtun, weiterhin.
Und er legte seine Hand auf meinen Bauch, streifte mit der Handinnenfläche über meine Taille, meine Rippen, ertastete meine Brust, drückte die Fingerkuppen in meine Schenkel, in meine Leisten.
– Weil meine Leber dir zu groß ist und deine Milz mir zu klein, weil deine Muskeln mir zu zäh sind und meine dir zu hart, weil mein Blut in dir zu schnell fließt und deines in mir zu langsam, weil deine Ohrläppchen für mich zu schön sind.
Ich musste lachen. Mein Herz tat weh. Es tat physisch weh.
Ich wusste, dass er Recht hatte. Aber das Wissen änderte nichts daran, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er ein anderer wäre. Dass unsere Zukunft frei und offen wäre und wir uns begegnen könnten wie zwei fremde Menschen.
Ich führte seine Hand über meinen Bauch, zu meinem Hals und legte seinen Zeigefinger auf meinen Puls.
– Was, wenn wir beide nie eine andere Zukunft hatten als eine gemeinsame und der Knall nur deswegen passierte, damit wir sie bemerkten?
– Dieser Knall hat meine Mutter das Leben gekostet, meinen Vater auf andere Art und Weise auch und mir eine fremde Familie gegeben, die ich eigentlich hätte hassen müssen. Was meinst du – ist solch eine Zukunft erstrebenswert? Die will ich nicht, Stella. Deswegen lass uns versuchen, nur manchmal die Scheißsehnsucht zu stillen, ein kleines Ritual, das wir brauchen, unser heimliches Ritual, uns anzufassen. Aber dann lass uns auch wieder still zurückkehren in unser Leben. Bis wir uns wieder, heimlich und still, irgendwo treffen, um uns erneut zu berühren.
14.
Mark war wieder da. Wir schwiegen uns an, nach seiner Rückkehr war ich zumindest anwesend, erfüllte meine Pflichten, beklagte mich nicht, war nach wie vor Theos Mutter, seine Schandmutter.
Wir feierten Theos siebten Geburtstag und gaben die Kinderparty bei den Großeltern in Blankenese, wo die Kinder ungestört laute Musik hören und herumtollen konnten, Kuchen aßen, mit Wasserpistolen herumfuchtelten und den Garten unter Wasser setzten.
Ich saß in der Ecke des Gartens am langen Tisch voller süßer Getränke und Kuchen. Mark unterhielt sich mit anderen Vätern und kümmerte sich um den Grill. Ich unternahm keine besondere Anstrengung, mich mit anderen zu unterhalten. Die Sonne schien. Es war warm geworden, und ich ließ die einzelnen Sonnenstrahlen wie ein Jongleur auf meinen Armen herumspazieren. Ich betrachtete meine Finger, die so blass, knochig, nackt und funktionslos wirkten. Ich sah mir meinen Ehering an und
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