Mein Sanfter Zwilling
er weg ist. Und lerne, hinter bestimmte Sachen einen Punkt zu setzen. Sonst endest du wie Mutter.
– Mutter hat etwas beendet . Sie ist nicht geendet . Sie hat nur das getan, was du von mir verlangst: einen Punkt gesetzt. Und was hat es ihr gebracht?
– Sieh dich an, dann siehst du, was er erreicht hat! Ich hab es ja gesagt, ich habe es Tulja, ich habe es Vater gesagt: Ivo muss nur kommen, und Stella stürzt wieder ab. Die alte Geschichte. Du bist da zu labil. Ich meine, ich verstehe es, ich verstehe es ja durchaus. Der Kuchen ist hervorragend, möchtest du nicht auch ein Stück probieren? Oder den Rhabarber …
– Ich bin nicht labil. Ich bin nicht labil, und hör auf mich so zu behandeln, als wäre ich jemand, dem man helfen muss.
– Nach all dem, was war. Ich meine, Stella. Ich bitte dich. Das ist doch mittlerweile peinlich. Und was passiert, was erreichst du, wenn du andauernd darüber redest, über das Früher und wie wir waren, alle ach so heiter und frei und was? Und über unsere Kindheit. Diese Kindheit war gar keine, kapier das bitte! Leg’s zu den Akten, oder geh und mach eine Therapie. Ich kenne übrigens einen sehr guten Gesprächstherapeuten in der Innenstadt, und ich könnte …
– Scheiß auf deinen Therapeuten!
Leni starrte mich mit offenem Mitleid an.
– Okay, okay, was ist los? Was ist passiert? Was will er von dir?
– Ich will dein Mitleid nicht, Leni, ich will nicht, dass du dich zu mir runterbeugst, als würde ich auf dem Boden liegen, und mir dein Gehör schenkst, weil du so gnädig bist.
– Mein Gott, du bist echt undankbar, weißt du das?
– Ich geh jetzt. Du kannst für mich bezahlen.
Ich verließ den Tisch und ließ ihr keine Zeit zum Widersprechen.
Es waren einige Monate nach jener Nacht mit Ivo vergangen, einer Nacht, deren Spuren ich mit Wut aus meinem Gedächtnis zu fegen versuchte: Nicht dass ich ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt hätte, es war, als wäre diese Nacht etwas Unvermeidbares, als wäre sie vorbestimmt gewesen und als hätte ich niemals eine andere Wahl gehabt, als mich in mein Schicksal zu fügen.
Erst nach und nach kamen die Zweifel. Ich hatte nicht viel von Ivo erwartet, nur etwas mehr Komplizenschaft, eine kleine Bestätigung für unser gemeinsames Geheimnis. Aber er verschwand wieder, wie in den Jahren zuvor, um in die große weite Welt zu ziehen, die nur darauf wartete, von ihm erobert zu werden. Vielleicht aber auch schon wie von dem Moment an, als er wieder mit dem Sprechen anfing und mir meine Unentbehrlichkeit entzog; als er meine Sprache nicht mehr brauchte, um zu überleben.
Sein Verschwinden war rücksichtslos, keine Sekunde verschwendete er darauf, an mich zu denken. Sein Verschwinden war grausam und vollkommen.
Merkwürdigerweise war mir in meinem vernebelten Zustand sonnenklar, dass ich mich keineswegs in dieselbe Apathie zurückfallen lassen durfte wie damals, nach seinem letzten grandiosen Verschwinden. Diesmal verwandelte sich meine Sehnsucht in Rage und trieb mich an, verbot mir jegliche Gedanken an Stillstand. Meine Trauer bekam einen wütenden Beigeschmack, und ich stürzte mich in mein Studium, ich unternahm mit Abi kleine Reisen durch europäische Städte, las viel, lernte und feierte das Leben, so gut es ging. Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit wenig schlief, weil mir selbst der Schlaf als Zeitvergeudung erschien. Auf einmal fiel ich auf, man legte Wert auf meine Meinung, und stolz lief ich herum wie eine Revoluzzerin mit Baskenmütze und Bleistiftrock.
Vor allem begann ich damals, intensiv zu schreiben. Ich verfasste Essays, notierte all meine Gedankenfetzen, um sie nach ein paar Tagen in Artikel umzuwandeln, und ich gestaltete und reorganisierte die Studentenzeitung. Abi schien nicht mehr mit mir Schritt zu halten, wurde immer trauriger, lustloser, fader in meinen Augen.
An jenem Morgen stand ich vor dem Spiegel und zog mich an. Ich machte mich für die Universität fertig, für die Redaktionssitzung der Studentenzeitung, deren Leitung ich übernommen hatte, nachdem Ivo nach München gezogen war. Abi hatte sich hinter mich gestellt und berührte meine linke Brust. Xerxes räkelte sich in der Morgensonne auf dem Fensterbrett. Ich sah Abi im Spiegel, seine Hand auf meiner linken Brust. Ich stellte mir kurz vor, dass meine Haut verschwand und seine Hand im blutigen Inneren meines Körpers mein Herz ertastete.
Nach der einen Nacht, als mich Ivo am nächsten Morgen seelenruhig wieder zu meinem Rad gefahren und
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