Mein Sanfter Zwilling
mich an der Stelle wieder abgesetzt hatte, als hätte es diese Nacht nie gegeben, dockte ich genau dort wieder an, wo wir uns am Tag zuvor begegnet waren. Er hatte sich mit einem sanften Kuss auf meine Wange von mir verabschiedet, und ich hörte nichts mehr von ihm.
Abi hielt meine Brust fest, drückte fester und fester. Ich schrie auf und befreite mich aus seiner Umarmung.
– Das tat weh, Abi.
– Ich wollte dir wenigstens annähernd zeigen, wie es sich anfühlt.
– Sich was anfühlt?
Da erst bemerkte ich, dass sein Gesicht düster war und seine Stimme etwas Gedämpftes hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und hielt mir einen zerknüllten Fetzen Papier hin. Ich verstand überhaupt nichts. Zwischen uns herrschte nicht mehr die Nähe von einst, aber wir stritten uns nicht, und Abi hatte sich mir gegenüber niemals aggressiv verhalten; er schwieg lieber, als etwas offen auszusprechen. Deshalb begriff ich nicht sofort, was er mir vorlas:
Ich denke an deinen Körper und hasse dich dafür, dafür, dass er dir gehört. Du sagst, ich sei grausam zu dir. Vielleicht bin ich das wirklich. Vielleicht will ich kein zusätzliches Aneinanderketten, weil uns schon genug aneinanderkettet. Vielleicht hast du Recht, und man sollte nicht jemand anderes sein wollen. Ich habe keine Antworten, aber du erwartest sie von mir, und das macht mich wütend. Du bist bequem, weil du Angst hast. Und ich erwarte mehr von dir, angesichts des Tages, an dem du die wurdest, die du bist, und ich der, der ich bin. Ich kann deine Trägheit nicht leiden. Aber vor allem wollte ich dir sagen, dass du wunderschön bist. Und daran denken zu müssen, macht mich schwach. Ich kann es mir nicht leisten, schwach zu sein.
Komm mich besuchen, oder nein, keine Umschreibungen: Komm und schlaf mit mir. Ivo.
Ich hatte keinen Versuch unternommen, Abi zu unterbrechen. Ich hörte hin, auf jedes einzelne Wort lauschte ich und hatte vergessen, dass Abi es war, der mir das vorlas, ich hatte vergessen, dass diese Worte nicht ihm gehörten.
– Woher hast du den Brief?
– Ist es das Einzige, was dir dazu einfällt?
– Wieso hast du den Brief?
– Ist dir eigentlich nicht bewusst, was da steht, oder du bist so gewissenlos, dass es dir egal ist? Es geht gerade nicht darum, von wann der Brief ist, es geht nicht darum, dass ich ihn habe, sondern dass es dein Bruder ist, der dir so etwas schreibt!
– Hör auf, Abi!
Abi hatte Tränen in den Augen und sah mich an, verständnislos, erschrocken, verächtlich. Ich wusste, dass es unmöglich war, ihm irgendetwas zu erklären. Abi knallte die Tür hinter sich zu. Ich nahm das zerrissene Blatt Papier in die Hand und las immer wieder die Worte, die in Ivos kleiner, ungelenker Handschrift geschrieben waren. Der Umschlag fehlte, und obwohl ich die ganze Wohnung auf den Kopf stellte, konnte ich ihn nicht finden und wusste nicht, von wann der Brief war und von wo er abgeschickt worden war. Ich rief Tulja an, die in der Hoffnung, Ivo und ich würden nun endlich unser Kriegsbeil begraben, mir sofort seine Adresse verriet.
Abi erwartete, dass ich aus der Wohnung auszog. Nach und nach sickerte bei mir die Angst vor dem Verlust durch: seiner Freundschaft, seiner Nähe, seines Verständnisses, seiner Ruhe. Abi wollte Erklärungen, Entschuldigungen; ich weiß nicht, ob er mir je verziehen hätte, hätte ich ihm all die Opfer dargebracht, die er von mir verlangte. Seine Verachtung stieg in dem Maße, wie ich keinerlei Versuch unternahm, seinem Wunsch nachzukommen. Ich wusste, dass alles, was ich hätte aussprechen können, mich ihm nur noch fremder gemacht hätte. Jedes weitere Wort hätte ihn mich hassen lassen. Ich aber hasste die Vorstellung, dass er mich hasste.
Noch war Xerxes bei mir, und noch hatte ich die Anzeichen der Verlassenheit nicht in ganzer Klarheit vor mir, noch waren sie nicht in ganzer Schärfe sichtbar.
Ich sah auf die Straße, die voller glücklicher Fußgänger war. Ihr Glück erzeugte Ekel in mir, und aus irgendeinem Grund spuckte ich vom Fenster auf zwei Passanten hinunter und duckte mich wie ein verschämtes, aber triumphierendes Kind.
Ich ging ins Schlafzimmer, packte hastig eine kleine Sporttasche, setzte Xerxes in seinen kleinen Korb und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof. Nach einer endlos langen Fahrt mit einem wild gewordenen Kater kam ich in München an. Es war windig und staubig. Ich kannte die Stadt nicht und fühlte mich elend. Mit meinem Beweismaterial, dem Brief in der Hand und der Adresse, die mir
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