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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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Tulja gegeben hatte, fuhr ich im Taxi zu Ivos Wohnung. Tulja hatte mir den Namen genannt, bei dem man klingeln sollte. Vielleicht eine WG, dachte ich mir. Es war ein langweiliger 50er-Jahre-Bau. Grau und gewöhnlich. Nichts erinnerte an Ivo.
    Ich klingelte. Sofort meldete sich eine weibliche Stimme.
    – Ja, bitte?
    – Ich bin Stella. Ich suche Ivo.
    – Wer?
    – Stella.
    – Oh. Er ist nicht da, aber komm hoch.
    Ich ging trotz Fluchtimpulsen hinauf wie ein geschlagener Hund und drückte die schwere Box mitsamt Xerxes an mich.
    Ein hochgewachsenes dunkelhaariges Mädchen öffnete die Tür. Sie lächelte mich höflich an und bat mich herein; sie stellte sich mir als Lily vor. Eine eher gewöhnliche Wohnung, spärlich eingerichtet, ohne jegliche Sorgfalt, mit kaum Spuren von Leben darin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ivo hier lebte, wo er doch überall Spuren hinterließ, sichtbare, gravierende. Wir setzten uns in die Küche und flüchteten uns in ein Gespräch über Xerxes, der endlich aus seiner Box durfte und was zu fressen bekam.
    – Bist du eine Freundin aus Hamburg?
    – Ich bin seine Schwester.
    Nichts hasste ich mehr, als diese Bezeichnung auszusprechen, und als würde das die Kategorisierung ein wenig mildern, mich ein wenig freier davon machen, fügte ich hinzu: Seine Adoptivschwester.
    – Also warum sagst du das nicht gleich. Ich dachte schon, ich müsste eifersüchtig werden, rief Lily sichtbar erleichtert. – Er kommt bald nach Hause, du kannst hier auf ihn warten.
    Sie hatte ein schmales Becken und volle Lippen. Sie nahm mich in ihre Arme. Mich, die Schwester ihres Freundes. Ich wurde rot und senkte den Kopf. Zwei volle Stunden musste ich mir Lilys Begeisterung über Ivo anhören. Wie sehr sie sich freue, dass ich da sei, denn er würde so wenig über sich und seine Familie sprechen. Dass das hier eigentlich ihre Wohnung sei und dass Ivo ja nie lange an einem Ort bleibe und bei ihr jetzt sei, da er ja vor ein paar Monaten aus dem Wohnheim rausgeflogen und etwas Eigenes in München ja sehr teuer sei; dass er aber sehr gut zurechtkäme und dass er tolle Sachen schreibe und dass man ihm eine großartige journalistische Karriere prophezeie, so mutig und so radikal, wie er eben sei. Ich spürte meine aufsteigende Übelkeit angesichts dieser Lobeshymne und musste zwischendurch ins Bad verschwinden, um meinen Kopf unter kaltes Wasser zu halten.
    Erst kurz vor Mitternacht wurde die Tür mit einem Schlüssel geöffnet, und ich hörte polternde Schritte im Flur. Noch bevor die reizende Lily ihm die gute Nachricht meiner Ankunft mitteilen konnte, stand er schon mitten in der Küche und sah verdutzt auf mich und Xerxes, der ängstlich auf meinem Schoß kauerte. Ivo wich einen Schritt zurück, dann lächelte er ein wenig verlegen und lachte dann lauthals auf. Er war ein wenig voller geworden, schien gesund und leicht, als würde er durchs Leben nicht gehen, sondern auf einem schmalen, seidenen Faden wie ein Meisterakrobat tänzeln. Virtuos, voller Grazie. Und schon wieder fühlte ich mich meiner Daseinsberechtigung beraubt, schon wieder war ich unscheinbar, unwichtig, und im gleichen Moment ärgerte ich mich, hierhergekommen zu sein, hasste ich ihn schon dafür. Mein Selbstbewusstsein, neu erlangt und erkämpft, schwand in Sekundenschnelle dahin.
    Es entstand eine peinliche Stille, die sogar Lily bemerkte, da sie sofort anfing, irgendwelche Banalitäten zu plappern und Ivo immer wieder zu versichern, wie sehr sie sich freue, die Schwester kennenlernen zu dürfen.
    Nach einer weiteren qualvollen Stunde gelang es Ivo, dem Mädchen klarzumachen, dass es besser sei, mich bei einem Freund unterzubringen, da es dort geräumiger sei, und dass er sich wünschte, den Tag allein mit mir zu verbringen, mit der Aussicht, dass wir doch die Tage was zusammen unternehmen könnten. Lily schien enttäuscht, aber sie ließ uns schließlich gehen.
    Auf der Straße, in der Dunkelheit der Herbstnacht, lehnte ich mich gegen die kalte Hauswand, Xerxes’ Box umklammernd, und atmete tief durch. Ich hatte das Gefühl, gleich umzukippen.
    – Wieso bist du hier? Woher hattest du diese Adresse?, fragte er schroff.
    Ich hatte kaum Kraft zu reden. Ich holte den Brief hervor und hielt ihn ihm entgegen.
    – Aber den habe ich vor Ewigkeiten abgeschickt, und es war eine andere Adresse darauf.
    – Abi hat ihn geöffnet.
    Er erwiderte nichts, trat nahe zu mir und sah mich an. Lange, ohne zu blinzeln, starr und ausdruckslos.
    – Okay,

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