Mein Sanfter Zwilling
fing an, an ihm herumzudrehen, ich zog ihn ein wenig hoch, versuchte ihn abzunehmen, und dann steckte ich ihn mir wieder an. Ob mit oder ohne Ring – ich hatte versagt.
Abi hatte mich geohrfeigt und dann laut aufgeschluchzt, als ich meine Sachen packte. Xerxes war erschrocken in eine Ecke gekrochen und hatte die Welt mit fassungslosen Augen betrachtet, seine Welt, die zweigeteilt wurde. Ich hatte keine andere Wohnung gefunden, es war ein heißer Sommer, und die Semesterferien hatten gerade angefangen, und so hatte ich beschlossen, die Sommerwochen bei Tulja zu verbringen, bis ich etwas in Aussicht hätte.
In Niendorf verbrachte ich die Tage in einer Hängematte, die ich zusammen mit Tulja gespannt hatte, und starrte in den Himmel. Abends ging ich zum Strand oder schrieb für die Uni-Zeitung. Ich rauchte und hörte im Keller alte Schallplatten. Manchmal half ich Tulja im Verleih, schweigend, ohne Fragen zu stellen, verbrachten wir die Tage Seite an Seite, und ab und zu machte sie ihren berühmten Apfelkuchen und lud alte, gackernde Damen ein, die ich dann mit Branntwein bewirten und abends nach Hause kutschieren durfte. Ich hatte keinem was von meinem neuen Aufenthaltsort erzählt und verließ kaum das Haus oder den Garten.
Meine Trauer war nicht übermächtig, nicht blutig. Sie war zärtlich, fast schon demütig, geduldig gar und ließ sich mit Tuljas Likören wunderbar mildern.
An einem Sonntagabend, ich war am Strand gewesen, hatte gelesen und mir Notizen gemacht, kam ich zum Haus zurück und merkte, dass etwas anders war. Ich dachte zuerst, Vater sei zu Besuch, doch fehlte sein Wagen. Das Tor war offen, und die alte Kinderschaukel am Baumhaus schaukelte hin und her, als hätte jemand sie wieder zum Leben erweckt.
Ich blieb stehen und horchte. Tulja plapperte aufgeregt, mit einem glücklichen Kratzen in der Stimme, und da wusste ich, dass er gekommen war.
Ich rannte hinein und sah Ivo mit roten Wangen am Tisch sitzen und Tuljas Suppe löffeln. Im Flur standen sein großer Rucksack und seine Schuhe.
Auf seinen Besuch war ich nicht gefasst gewesen, und es war mir auch nicht sonderlich angenehm, denn ich wusste ja nicht, was Tulja ihm alles geschrieben hatte und ob er von meiner Flucht aus Hamburg wusste. Trotzdem vergaß ich die Irritation und stürmte auf ihn zu. An diesem Ort schien es so einfach, neben ihm zu sitzen, ohne Anstrengung, ohne die Verletzungen, die die Begegnungen der letzten Jahre mit sich gebracht hatten.
Von einer Reise sei er zurückgekehrt und wolle sich eine Woche hier bei Tulja verstecken, sagte er. Ich musste lachen. Würde es immer so sein? Würden wir uns immer wieder in die Vergangenheit und an die Orte, die dazugehörten, flüchten, uns verstecken, um uns zu erinnern?
– Das klingt gut. Iss nur, iss nur, die Kleine versteckt sich auch bei mir vor der Welt, die ihr Kummer bereitet, sagte Tulja und legte mir einen Arm um die Schulter, als wolle sie sichergehen, dass ich noch da war.
– Komm, Stella, iss auch was. Den ganzen Tag am Wasser und nichts Gescheites essen, das bringt einen nicht weit!
Und sie machte mir die Suppe warm.
Nachts saßen wir auf der Schaukel, die knarrte und ächzte, und summten Lieder vor uns hin. Ich versuchte keine Fragen zu stellen; er hatte ja keine Antworten, hatte er mir in seinem Brief geschrieben.
Es waren schöne Tage. Ich erinnere mich sehr klar an diese Woche. Ich hatte das Gefühl, die verpasste Jugend mit Ivo in dieser einen Woche nachholen zu können: Wir fuhren mit dem Boot hinaus, obwohl die See stürmisch war und Tulja es uns verboten hatte; wir lagen am Strand, wir spielten vierhändig Akkordeon, wir aßen Gulasch und saßen abends auf der Terrasse und hörten der Nacht zu. Er fragte nichts, und ich sagte nichts; die Ruhe und die Nähe waren nur möglich, weil wir in jener Woche wieder Geschwister waren, Geschwister, die einander selbst ausgesucht hatten.
Wir halfen Tulja im Garten; der heftige Küstenregen hatte die Blumenbeete zerstört. Ich trug alte Gummistiefel, und Ivo hatte sein Hemd ausgezogen; ich half beim Umgraben und richtete die noch zu rettenden Pflanzen wieder auf. Zufällig berührte ich mit meinem Ellenbogen seine Wirbelsäule; er war leicht nach vorne gebeugt, und seine Hände waren schmutzig von der feuchten Erde. Eine wütende Lust packte mich, und ich verspürte einen Impuls zu schreien. Ich schrie auf. Ivo drehte sich um und verlor das Gleichgewicht, landete in der Erde; ich kniete mich zu ihm nieder und küsste
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