Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
aufs Zimmer, etwaige Folgesitzungen würden dann bei ihr stattfinden, erklärt sie nach der Begrüßung. Sie entspricht weitgehend seinen Vorstellungen von einer Psychologin, aber nicht genug, um sie unsympathisch zu finden. Nachblondierte Haare, um die fünfzig und mit einer angenehmen Stimme.
Sie lässt ihn reden. Nach fünf Minuten denkt Max: Was für ein billiger Trick, um mich weich zu bekommen. Sie ahnt bestimmt, dass ich Schweigen nicht aushalten würde.
Nach einer halben Stunde sprudelt es so aus ihm heraus, dass er keine Zeit mehr hat, mit doppeltem Boden zu denken. Nie hätte er sich träumen lassen, wie befreiend es ist, im Krankenhaus jemandem ohne Hintersinn zu begegnen: nicht wie den Ärzten, denen er dauernd beweisen will, ihnen wenigstens intellektuell gewachsen zu sein. Am meisten überrascht ihn, dass er ihr nach ein paar pflichtschuldigen Bemerkungen über die Krankheit ganz andere Dinge erzählt. Von weit zurückliegenden Kränkungen, von der immer noch schmerzenden Trennung seines Lebens. Er ist mehr als seine Krankheit. Diese Einsicht tut ihm gut.
Im Anschluss schreibt er eine aufgekratzte Mail an Tom: Geh unbedingt auch mal zu einer Seelenklempnerin! – Er löscht sie erst ein paar Stunden später, bevor er den Einwahlcode fürs Internet bekommt.
Bei der Visite erklärt ihm die Stationsärztin ihr Vorhaben, in der kommenden Woche weitere Untersuchungen zu veranlassen, um über seinen Fall mehr Klarheit zu erlangen. Das bedeutete allerdings, dass sich sein Aufenthalt um ein paar Tage verlängern würde.
» Außerdem tun Ihnen die Anwendungen doch gut, oder?«
Max nickt, er will sie nicht enttäuschen. Dabei denkt er: Anwendungen sind wohl der Trostpreis.
Am Nachmittag sitzt er bei der nächsten in einem Raum, halb ausgelassenes Schwimmbecken, halb Labor, die Füße in einem Bottich voller Wasser. Auch die Unterarme ruhen in mit Flüssigkeit gefüllten Behältern. Durch alle Gliedmaßen fließt Strom. Gerade so stark, dass es nicht schmerzt und dennoch überall piekst. Wehmütig sieht er aus dem Fenster in die entlaubten Bäume. Da, wo er die Freiheit vermutet.
In Hollywood-Filmen ist Heilung irgendwie cooler, kommt ohne Bottiche und Stromstöße aus. Nach einer Schlägerei liegt der Held mit Verbänden am Tropf im Krankenhaus und empfängt Besuche wie der Papst. Eine rätselhaft schöne Frau steht plötzlich im Krankenzimmer, das Licht verändert sich. Er erkennt sie nicht, dabei ist es seine große Liebe, aber er hat bei der Schlägerei sein Gedächtnis verloren. Sie sagt ihm, er solle sich nicht aufregen, alles würde gut. Auch die füllige, dunkelhäutige Krankenschwester, deren Kittel über dem Busen spannt, erklärt dem Helden: » Schonen Sie sich!«
Plötzlich kehrt sein Gedächtnis zurück. Nun hat er keine Zeit mehr, sich zu schonen. Er reißt den Infusionsschlauch heraus und springt aus dem Bett. Zwei Einstellungen später schlägert er wieder herum, als ob nichts gewesen wäre … Heilung im Film ist hauptsächlich eine Herausforderung für die Maske. Sie macht aus dem Schauspieler wieder ihn selbst. Er wird gesund geschminkt. Im geheilten Zustand ist er genau der Gleiche wie vorher, der Krankenhausaufenthalt war nur eine kurze Regenerationsphase. Es gibt dort keine Rückschläge, die Langeweile des Klinikalltags wird übersprungen oder mit hübschen Mitpatientinnen kaschiert.
Dutzende Male hat Max so etwas gesehen, in Serien und Filmen. Immer diese eine Kameraeinstellung von der Tür auf ein Krankenbett, einen Tropf an der Seite, Statisten in weißen Kitteln hasten im Hintergrund vorbei. Oft genug jedenfalls, um seine Vorstellung von Heilung nachhaltig zu verändern. Er kann sie sich nur noch genau so vorstellen: anstrengungslos und vollkommen. Doch nun, in der Wirklichkeit dieses stromdurchfluteten Novembertages, entpuppt sie sich als viel kleinkarierter und vor allem langwieriger.
Irgendwo piepst es. Die Schwester kommt und reißt Max aus seinen Hollywood-Fantasien. Der Strom wird abgeschaltet, ihm wird ein Handtuch gereicht. Die Schwester sieht zu, wie er umständlich seine Schuhe anzieht. Helfen lassen möchte er sich nicht.
Auf dem Weg zurück zu seiner Station fährt er zwei jugendlich beschwingten Ärzten hinterher, die kopfschüttelnd ein Krankenzimmer verlassen haben.
» Dann halt nicht«, sagt der jüngere. Der andere nickt.
Max in ihrem Rücken auch.
Nach neun Tagen hält er es nicht mehr aus. Max dringt auf ein Gespräch. Am Nachmittag solle er sich in
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