Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
die nicht einmal mehr die Gabel halten kann. Krampfhaft versucht Max, sich nicht einzuordnen. Er sagt sich vor, dass es keine Logik gebe, schluckt immer wieder das Wort » Stadium« hinunter.
Die erste Nacht schläft er schlecht. Das Schnarchen seines Zimmernachbarn folgt, so wird ihm nach Stunden klar, einer gewissen Logik. Dennoch gelingt es ihm nicht, die kalkulierbaren Pausen zu nutzen.
Bei den Untersuchungen am Morgen gibt er den Musterpatienten: überpünktlich, gut gelaunt und in jeder Position zu Schäkereien aufgelegt. Er interessiert sich für die Urlaubserinnerungen einer technischen Assistentin, selbst als diese ihn fertig verkabelt hat und Stromstöße vom Zeh ins Hirn schickt.
Zwei Tage später kommt der erste Besuch. Sie treffen sich in der Cafeteria. Wenigstens tragen die Mitpatienten Jogginganzug und nicht Bademantel mit Infusionsständer, denkt Max. Dennoch spürt er, welche Überwindung es Tom kostet. Zumal dem der November in diesem Jahr besonders zusetzt. Eine alles überziehende Schwermut habe ihn erfasst. Die Arbeit sei wie ein zäher Kaugummi, doch endlich daheim, könne er nur noch an sie denken.
Zuerst ist es nur ein leichtes Unbehagen gewesen, in Toms Agentur, dann auch in der Beziehung. Mit den Jahren haben der Raubbau des Menschen an der Natur, all die offen und verborgen geführten Kriege, das alltägliche Krisengeraune daran angesetzt und ihn eingehüllt wie ein Kokon. Immer unbeweglicher wurde er, bekommt mittlerweile kaum noch Luft. Er fühlt sich, als würde er andauernd im falschen Zimmer sitzen. Reden kann er auch nicht mehr darüber, weil alles dazu schon ermüdend oft gesagt wurde. Man macht sich doch nur noch lächerlich, wenn man etwas verändern will. Die Welt verändern. Alle um Tom herum sind schon viel zu oft daran gescheitert, sich selbst zu ändern. Wo er auch hinsieht, macht er etwas falsch: Seine Frau behandelt er falsch, er kauft die falschen Dinge ein, bewegt sich nicht genug. Und wenn er sich bewegt, auch wieder nur falsch, nicht gelenkschonend. Selbst das Essen, in Studentenjahren seine größte Leidenschaft, ist ihm verleidet. Wenn es wenigstens scheußlich schmecken würde. Aber es schmeckt nicht scheußlich, sondern nur fad.
» Aber das ist natürlich alles nichts im Vergleich mit dem hier.« Tom deutet über die Plastiktische.
Um ihn aufzuheitern, erzählt Max von dem Salami-Sammler, von den schrägsten Untersuchungen, vom Schnarchen seines Zimmernachbarn. Nichts von den sinnlos verwarteten Stunden, nichts von den bedrückenden Gängen.
» Seit gestern bekomme ich wieder Kortison-Infusionen, ganz früh am Morgen. Ganz unchristlich früh. Von denen hab ich in den letzten Jahren schon mindestens dreißig erhalten, und noch nie, nie, nie eine Antithrombosespritze davor. Das haben sie hier exklusiv eingeführt. Zur Prävention, weil das Ganze einer steinalten Patientin mal nicht gutgetan hat. Aber ich hasse Spritzen. Heute Morgen war dann ein neuer Pfleger da. Er kam rein, murmelte meinen Namen und ging zielstrebig zu meinem Zimmergenossen. Als er ihn gebeten hat, den Bauch freizumachen, hat der nicht einmal gefragt, weshalb, sondern hat sich kommentarlos die für mich bestimmte Spritze geben lassen.«
Tom muss lachen, dann husten. Länger husten als lachen. Dennoch ist Max zufrieden. Immerhin ist es ihm gelungen, sogar diesen Umständen eine Geschichte abzutrotzen. Dass er selbst an diesem Ort dazu in der Lage ist, erfüllt ihn mit Stolz.
Zurück auf dem Zimmer, liegt eine Postkarte auf seinem Bett. Johanna hat aus dem Allgäu geschrieben. Auf der Vorderseite ist ein Gemälde von Caspar David Friedrich gedruckt, das zwei Männer am Strand zeigt. Hinter ihnen geht die Sonne oder der Mond unter. Auf der Rückseite schreibt sie:
» Mein lieber Max, ich weiß, dass du es nicht magst, wenn man seine Anteilnahme zu deutlich zeigt. Aber du kannst nichts dagegen tun, dass ich an dich denke. In einem wunderbar klugen Buch habe ich folgenden Ausspruch eines Rabbiners gefunden, der mich an deinen letzten Besuch bei uns erinnert hat: ›Kein Halm ist auf Erden, der nicht im Himmel einen Schutzengel hat.‹ – Deine Johanna.«
Max überrollt eine Welle der Dankbarkeit. Die Karte arrangiert er inmitten seines kleinen Altars auf dem Nachttisch.
Er kann sich nicht erinnern, bei der Erstuntersuchung angegeben zu haben, dass er gerne einmal mit einer Psychologin sprechen würde. Dennoch steht sie eines Tages auf seinem Stundenplan.
Beim ersten Termin komme sie immer
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