Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Intergalaktische Begegnung mit der Leber«.
An diesem Abend lässt Max die Hände nach einem halbherzigen Gebet gefaltet. Da war doch was! Leber, bitte melden!, schießt ihm durch den Kopf und: Entweder heute oder nie. Vielleicht ist an der Sache mit dem Frequenzdoppler ja doch was dran.
Zögerlich legt er die linke Hand auf den rechten Rippenbogen. Hat Karl links oder rechts gesagt? Max versucht zu rekonstruieren, wo sein Heiler stand, als er ihm das mit dem Speicherplatz erklärte. Also rechts. Aber wirklich so weit oben? Die Leber ist doch eigentlich auf Hüfthöhe, oder drüber? – Morgen würde er im Internet nachsehen, und wehe, Karl hätte ihm die falsche Stelle gezeigt! Dann – dann – Max fällt keine andere Drohung ein außer der, die Behandlung abzubrechen.
Als er seine Aufmerksamkeit endlich auf die Hand richtet, spürt er nichts außer dem Atemschwanken wie auf Deck eines Schiffs bei mittelschwerem Seegang. Rauf und runter geht es mit dem Brustkorb, manchmal mit Stockungen. Bald bemerkt er, dass jeder Atemzug sich von dem vorherigen ein wenig unterscheidet. Mal hebt sich mehr das Bauchheck, mal der Rippenbug, mal klatscht alles mit Rums nach unten, mal gleitet es sanft dahin. Auch die Rippen fühlen sich nicht wie festbetoniert an, sondern wie lose miteinander verbundene Planken, jede mit Eigenleben. Seine Leber müsste schon lange seekrank sein … Aber, so ermahnt er sich, er soll ja nicht Seemann spielen, sondern sich um die Wut kümmern. Gegenfrequenzen und so. Max fällt T. ein, die unerwiderte Liebe des vorletzten Herbstes, und wie er abserviert wurde bei einem Cappuccino zwischen zwei Terminen. Anscheinend hat er schon zu oft daran gedacht, die Erinnerung löst keine Empörung mehr aus. Weiter also. Er geht die üblichen Verdächtigen durch, eine ehemalige Kollegin, einen Lehrer, keine Wut. Ist er etwa ein Heiliger?
Auf einmal ist da etwas mit seiner Hand. Nicht mit der Hand selbst, eher unter ihr. Unter den Rippen pulst es heiß. Erschrocken zieht er sie zurück und legt sie auf die Bettdecke. Was ist da los?
Zehn Minuten später liegt die Hand wieder auf der Leber. Und dieses Mal erkennt er mehr. Unter dem Atem rumort wirklich etwas anderes, da tut sich was. Wut, denkt er mehrfach, nicht mehr in Worten, sondern jenseits der Sprache. Tränen schießen ihm in die Augen. Als sie ihm übers Gesicht an den Ohren vorbei aufs Kopfkissen tropfen, fühlen sie sich viel schwerer und voller an als jemals zuvor. Wieder ist es heiß unter seiner Hand. Und eine Abart von Angst erfüllt ihn: Was, wenn Karl Recht hat? Max will sich nicht mit seiner Physikerfreundin Sandra über die richtige Definition von » Frequenz« streiten müssen. Noch schlimmer wäre allerdings, wenn sie ihm aus Mitleid nicht einmal widersprechen würde. Ja, das wäre das Schlimmste, der stumme Widerstand seiner Freunde. Wenn sie ihn gewähren ließen wie einen hoffnungslosen Fall, dem man den letzten Strohhalm nicht wegnimmt … Er hört auch schon, wie sein Arzt mit hochgezogenen Brauen sagen wird: Aha, Sie spüren also Ihre Leber, und heiß ist sie auch … Schön, schön, aber nicht zu oft einen über den Durst trinken! – Somit steht fest, dass er über seine Leber höchstens mit Karl sprechen kann, dessen selbstgewisses Lächeln muss er eben in Kauf nehmen.
Aber weiter jetzt.
Nun ist ihm egal, was die anderen hierüber denken. Aufstöhnend lässt er sich fallen in einen Strudel aus Empfindungen und Bildern.
Am nächsten Morgen überprüft er als Erstes den Sitz der Leber. Wikipedia antwortet: » Die Leber ist mit etwa 1,5 kg Gewicht das größte Organ des menschlichen Körpers und liegt im Bereich des rechten Oberbauchs. Wenn die Leber durch eine Krankheit vergrößert ist, kann sie im Rahmen einer Untersuchung des Bauches durch einen Arzt deutlich unter dem rechten Rippenbogen ertastet werden.« – Immerhin: die eigene Leber zu spüren ist nichts Intergalaktisches.
Beim Weitergoogeln fällt ihm auf, dass einer funktionierenden Leber vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nur die kranke erregt Interesse. Es scheint das Los aller Organe zu sein …
Lange genug hat es gedauert, bis du mit Neugier statt Abscheu auf deinen Körper siehst. Nun hast du dich also doch auf den Weg gemacht, nach innen. Eine Abenteuerfahrt, auf der dich niemand begleiten kann. Nicht einmal ich.
Ich warte hier. (Aus lauter Langeweile habe ich schon mal angefangen, deine Bücher zu lesen.) Mal sehen, wie und wann du wieder
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