Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
auftauchst. Wahrscheinlich unrasiert, aber mit leuchtenden Augen. Bis dahin hülle ich mich in Schweigen. Sofern ich das aushalte.
20.
Einem Vollidioten sollte ein Rollstuhlfahrer ru h i g mal in die Hacken fahren.
Jeder Straßenbauer, der im dritten Jahrtausend nach Christus noch Kopfsteinpflaster verlegt, gehört standrechtlich erschossen. – Max lächelt grimmig, er wäre der Kronzeuge der Anklage.
Weitere zehn Meter Gehoppel hält er nicht aus. Also fährt er auf die Straße, vier Räder sind vier Räder. Es ist nicht einzusehen, die schön geraden und asphaltierten Straßen stinkenden Autos zu überlassen. Mit Bürgersteigen hat er abgeschlossen …
Aber das ist doch verboten, mit dem Rollstuhl auf der Straße zu fahren! Solche Ermahnungen werden in ihm mit der Stimme seiner Schwester vorgetragen … Und überhaupt, was heißt schon verboten? Ein Rollstuhl gehört auch verboten. Sollen sie doch kommen und ihn einsperren. Max wünscht sich sogar eine Begegnung mit einem Polizisten, am besten einer ganzen Hundertschaft. Er hat schon eine kurze Ansprache vorbereitet, die damit enden würde, den Beamten aufzufordern, einmal bis zum Tengelmann und zurück mit seinem Rollstuhl zurückzulegen, ordnungsgemäß auf dem Bürgersteig wohlgemerkt. Anschließend würde er den völlig erschöpften Beamten eigenhändig auf die Straße eskortieren! – Erst jetzt bemerkt Max, dass ihm jemand von eben diesem Bürgersteig etwas zugerufen hat. Er bleibt stehen und sieht sich um.
» Immer auf Risiko, was?«
Ein Bekannter, Verkäufer in einem der Klamottenläden, steht da rauchend, die freie Hand in die Hüfte gestemmt. Mit Kennermiene fragt er: » Und, Schub gehabt?«
Instinktiv setzt Max sein Patientengesicht auf und zieht die Schultern hoch.
» Nee, ist einfach so schlechter geworden.«
Der Verkäufer winkt mit der Zigarette ein Auto an ihm vorbei.
» Du weißt ja, was dir bevorsteht.«
Max schüttelt den Kopf.
» Sag du es mir!«
» Es kann nur schlechter werden.« Der Typ lacht sogar über seinen Scherz.
» Oder besser«, beharrt Max matt.
» Wenn der Körper verfällt, bekommt man dafür immerhin innere Freiheit. Das ist doch auch ein Trost.« Mit diesen Worten dreht der Kerl ab und verschwindet in seiner Herrenboutique. Max winkt ihm durch die Schaufensterscheibe zu und flüstert dabei leise: » Vollidiot.«
Eine Ecke weiter laufen ihm Tränen über das Gesicht.
Nein, dieses Wissen bietet keinen Trost.
Aber was dann? Was könnte ihn eigentlich trösten?
Ihm fällt nichts ein.
Wenig später holt ihn Andreas ab, ein befreundeter Theologe, um ihn zu einem Vortrag in der Katholischen Akademie mitzunehmen. Die beiden Inhaber eines Lehrstuhls für » Spiritual Care« würden sich vorstellen. Kein Mensch wüsste, was das sein soll. Aber gerade deswegen müsste man hin. Das wäre doch was für ihn!
Nach professoral launigen Eröffnungsworten versuchen die beiden Wissenschaftler, die sich den Lehrstuhl ökumenisch teilen, ihren Forschungsgegenstand zu erläutern. Krankheit sei heutzutage etwas ganz anderes als vor hundert Jahren, alles komme gerade ins Rutschen, lauter bewährte Gewissheiten gelten nicht mehr. Das merke man schon daran, dass nicht mehr alle gesundheitlichen Phänomene physiologisch oder psychosomatisch erklärbar seien. Ein Umdenken setze ein, sogar an der Universität. Der Glaube könne nicht mehr vom Prozess der Heilung getrennt werden, mehr noch: Heilung und Glaube gehörten irgendwie zusammen. Gläubige Menschen seien gesünder, unerklärlich, aber eine inzwischen dutzendfach bestätigte Tatsache. Glaubende Menschen genesen schneller, ebenfalls unerklärlich. Der Empirismus wäre am Ende, ohne dass die strengen Empiristen es gemerkt hätten. Und nun häufe neben der Faith-Forschung und der Coping-Forschung auch noch die aus Amerika herübergeschwappte » Spiritual Care« weitere Studien an. Genau hier wollen die beiden Professoren ansetzen, an der Schnittstelle zwischen Wissen und Glauben.
Max lässt sich von ihrem Enthusiasmus bereitwillig mitreißen. Wie spannend es doch ist, gerade in diesen Zeiten krank zu sein! Doch im Publikum macht sich Unruhe breit. Ein wenig genauer hätte man es nun schon gerne gewusst, wie das funktioniert mit dem Glauben.
Nach der Pause beschreiben die beiden Professoren je eine halbe Stunde ihre Forschungsprojekte. Integrativ, modular und interdisziplinär wollen sie mit Studien, Kolloquien und Publikationen in fünf Jahren immerhin so weit sein, eine
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