Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Definition von » Glauben« vorlegen zu können. Die zumeist pensionierten Zuhörer wirken enttäuscht. Sie haben sich alle etwas Anwendbares erwartet, inklusive Max. Die meisten sind nur in der Hoffnung geblieben, dass es bei der Fragerunde endlich konkret würde. Doch die beiden Wissenschaftler weigern sich beharrlich, praktische Hilfestellungen in Leidensfragen zu geben. Sie wollen nichts weiter, als die tastenden Versuche der Leidenden beschreiben, quantifizieren und katalogisieren.
Plötzlich steht ein uralter, buckliger Mann auf und tastet sich zum Mikrofon: Arzt sei er gewesen, so stellt er sich vor, und nun müsse er endlich etwas loswerden: » Das Bewusstsein des Menschen liegt in seiner Großhirnrinde. Wird diese nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, ist der Mensch tot, und das Bewusstsein existiert nicht mehr, Punkt. Mehr gibt es zu dem Ammenmärchen vom Glauben nicht zu sagen.«
Auch Max hält den Atem an. Wie kommt der dazu, gerade hier den Glauben komplett in Frage zu stellen? Wo doch seine heilende Kraft gerade bewiesen wurde.
Noch bestürzender als seine Ablehnung ist der Zorn, mit dem der alte Mann seinen Unglauben artikuliert. Ein Zorn, der gar nicht direkt gegen die Professoren auf dem Podium gerichtet ist, auch nicht gegen die anderen Zuhörer, vielleicht nicht einmal gegen sich selbst, sondern direkt gegen Gott. Was fällt diesem ein, nicht zu existieren.
In das eisige Schweigen erzählt der alte Mann, nun leiser, vom Sterben seiner Frau. Ganz am Ende habe er den Pfarrer handgreiflich vom Krankenbett ferngehalten. Um der Ärmsten nicht die letzte Hoffnung auf Genesung zu nehmen.
Wie kalt es sich anfühlen muss, gerade in dieser Frage die Wahrheit gepachtet zu haben. Tut der Mann sich und dem Rest des Publikums deshalb weh, um zu spüren, ob er noch lebt? Max hat plötzlich Mitleid mit ihm. Er wirkt so verloren in seiner Rechthaberei.
Irgendwann hätte einer der beiden Professoren den Alten stoppen müssen, überlegt Andreas, nachdem er Max daheim abgeliefert hat. Es geht nicht an, dass sie sich mit wissenschaftlicher Vornehmheit erst zurückhalten und dann dem Anti-Christ die Bühne überlassen. Andreas ist es unangenehm, seinen Freund zu der verunglückten Veranstaltung mitgenommen zu haben. Während des ganzen Vortrags saß er wie auf Kohlen, fühlte sich für jedes Wort verantwortlich. Dabei weiß er genau, dass Max gerade das nicht ausstehen kann, wenn man sich um ihn sorgt. Aber natürlich tut man es doch und muss ihm dann auch noch vorspielen, es nicht zu tun. Und Max weiß, dass man spielt, und lässt einen trotzdem zappeln.
Er wollte ihm doch einfach nur etwas Gutes tun, verdammt noch mal.
Andreas tritt kräftiger in die Pedale und rast über die rote Ampel an der Theresienwiese.
21.
Zwei Menschen können sich gegenseit i g s o gar mit der Aussage trösten, dass es keinen Trost gibt.
Die Frage, was ihn trösten könnte, verfolgt Max. Wie ein Sudoku, das nicht aufgeht. Er muss mit irgendwem darüber reden. Aber seine Freunde, sonst für jedes Thema offen, drucksen herum. Selbst Tom sieht ihn nur groß an: »Trost. Hm, das ist doch eher was für Kinder.«
» Ja, aber vielleicht verschwindet das Bedürfnis danach nicht, nur weil man erwachsen wird.«
Tom zuckt mit den Schultern. Plötzlich lächelt er erleichtert, ihm ist eingefallen, wie er Max helfen und sich trotzdem aus der Affäre ziehen kann: » Ich gebe dir die Nummer von meiner Freundin Sophie. Wenn jemand etwas über Trost weiß, dann Sophie. Sie hat ein Buch über Sterbebegleitung geschrieben. Und rackert seit dem Tod ihres Mannes in einem Hospiz. Da hat sie bestimmt einiges darüber zu erzählen. Pass nur auf, dass sie dich nicht einfängt mit ihren Geschichten.«
Sophie erklärt sich sofort bereit, Max zu treffen, obwohl sie im selben Atemzug verkündet, mit Trost größte Schwierigkeiten zu haben. Mehr dazu dann unter vier Augen.
In dem vereinbarten Café ist sie vor ihm da. Eine hagere Frau mit wachen Augen, Mitte fünfzig vielleicht. Früher wahrscheinlich Kettenraucherin. Ohne Kennenlerngeplänkel kommt sie gleich zum Thema.
» Trost«, rechtfertigt sie ihre spontane Ablehnung, » gibt es für mich nicht. Nur die Einsamkeit der Trauer, und die hat mit den Jahren noch zugenommen.«
Über das Sterben und den Tod ihres Mannes spricht sie ohne jede Hemmung. Sieben Jahre liegt das bereits zurück. Die acht Wochen von der Diagnose bis zu seinem Ende hätten sie gezeichnet. Während der ganzen Zeit hätten sie beide
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