Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
einmal zu ihm gehen?«, fragt Charlotte.
» Ich weiß noch nicht. Erst mal nicht. Aber etwas anderes wollte ich Ihnen noch erzählen. Ich habe Fußball geschaut, und danach konnte ich besser gehen. Verrückt, nicht wahr?«
» Nein, überhaupt nicht. Das ist inzwischen auch erwiesen, dass das Denken an Bewegungen dieselben Gehirnareale aktiviert wie die Bewegung selbst. Der Feldenkrais wusste das schon ein halbes Jahrhundert früher. Aber die Wissenschaft hinkt der Erfahrung eben immer hinterher. Eine meiner Patientinnen saß nach einer Operation im Rollstuhl. Die hat sich selbst geheilt, indem sie sich eine Platte mit ›Giselle‹ gekauft hat und die Choreographie so lange im Kopf durchgegangen ist, bis sie wieder aufstehen konnte.«
Also doch Ballett! – Um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, fragt Max: » Und heute ist sie Primaballerina am Bolschoi-Theater?«
» Nein, aber die Frau läuft besser als Sie.«
Max verabschiedet sich, ohne den nächsten Termin zu vereinbaren. Diesmal vergisst er es ohne Hintersinn, so beschäftigt ist er noch mit der Balletttänzerin im Rollstuhl.
Ausnahmsweise hat Charlotte eine halbe Stunde Zeit bis zum nächsten Termin. Sie schenkt sich aus der Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein und stellt sich damit ans Fenster. Den Gartenstuhl in der Mitte der Wiese hat sie nie benutzt. Und wird es wohl auch nie mehr. Etwas in ihrem Bauch zieht sich zu einer Stahlkugel zusammen. Warum hat sie Max nichts von dem Untersuchungsergebnis gesagt, fragt sie sich. – Die anderen Klienten hat sie bereits darüber informiert, dass sie für unbestimmte Zeit ausfallen wird. Möglichst sachlich und immer bemüht, unbesorgt zu klingen. Es hat ihr geholfen, zumindest die Fiktion von Normalität aufrechtzuerhalten, keine Panik zuzulassen. Davon ist schon genug in ihr. Nur Max hat sie nichts gesagt. Schließlich weiß sie, warum. Sein Aktionismus, von einem Heiler zum anderen, hat ihr gutgetan, sie wollte ihm keinen Dämpfer versetzen mit ihrem eigenen Schmerz.
Manchmal würde man gerne bleiben, länger auf einer Liege sitzen, an einer Frau vorbei in einen Garten sehen – und sei es nur so lange, bis die Frau eine Tasse Kaffee ausgetrunken hätte. Ihr über den Rücken streichen, damit der Krampf in ihren Eingeweiden sich löst. Aber nein, nicht einmal das ist möglich, wenn ganz in der Nähe neues Unheil droht.
Du brauchst trotz aller Fortschritte doch dringend jemanden, der zumindest ein Auge auf dich hat … Mit den Krücken hast du dich bis zur Straße getastet und drohst nun, vor- und zurückschwankend, jeden Moment umzufallen. Du hast mal wieder eine Wette mit dir abgeschlossen: Alles würde gut, wenn, ohne es bestellt zu haben, ein leeres Taxi vorbeiführe. Ganz wie in New York.
Zufällig kommt eines, im allerletzten Moment.
19.
Wenn die Menschen wüssten, was sie alles in sich entdecken könnten, hätte keiner mehr einen Fernseher.
»Sie müssen mit Ihrer Leber in Kontakt kommen.«
Karl nimmt die Hand vom Brustkorb seines Klienten. All die unterdrückte Wut wäre in dem Organ gespeichert, an die müsse er ran. Sonst gäbe es irgendwann ein Unglück. All die enttäuschten Hoffnungen auf Heilung, die hätten sich tief eingebrannt. Max öffnet die Augen und dreht den Kopf fragend zu ihm.
» Wie oft hat man Ihnen denn schon gesagt, dieses oder jenes würde Ihnen helfen, und dann war es wieder nichts? Im Gegenteil, es wurde schlechter, nicht wahr?« Als Max nickt, fährt Karl fort: » Legen Sie die Hand auf die Leber, hier am Brustkorb, und googeln Sie in Ihrem Gedächtnis ›unterdrückte Wut‹ oder Begriffskombinationen wie ›Wut Vater Mutter‹, und dann schauen Sie mal, was die Suchmaschine ausspuckt.«
» Und wenn die Wut da ist, was mache ich dann mit ihr?«
Die Wut habe eine bestimmte Frequenz, erklärt Karl. Und indem er sich ihrer bewusst werde, sende die Hand die entsprechende Gegenfrequenz aus. Der Rest folge den Gesetzen der Physik: Frequenz und Gegenfrequenz heben sich gegenseitig auf. Damit werde die zellulär gespeicherte Information gelöscht und die Leber ein Stück betriebsfähiger, weil sie sich nicht mehr mit dem unnötig belegten Speicherplatz herumplagen müsse.
» Aha.« Max kann seine Enttäuschung schwer verbergen.
Mr. Spock, beamen Sie die Wut auf der Stelle mit dem Frequenzdoppler weg. Und dann leiten Sie sofort eine Gehirntransplantation ein. Also dalli!
Den Rest der Stunde unterhält Max sich mit immer neuen Variationen der Folge »
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