Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
direkt unter Umarmung, dabei fester aufdrückend: Alles geht einmal zu Ende.
Und gleich dahinter und über die Linie bis auf die rechte Seite: Nichts geht zu Ende, alles verändert sich.
Er knüllt das Blatt zusammen. Zu verworren und widersprüchlich das Ganze.
In diesem Augenblick treffen vor seinem Fenster zwei ältere Damen aus der Nachbarschaft aufeinander. Jeden Sonntag verabreden sie sich an der Kreuzung, bei Wind und Wetter, um anschließend gemeinsam zur Kirche zu gehen. Dieses Ritual wirkt sogar auf einen Beobachter tröstlich. Und dass sie sich immer noch siezen, nach wer weiß wie vielen Jahrzehnten.
Als sie weg sind, streicht Max das Blatt auseinander und schreibt auf die linke Seite neben Umarmung noch zwei Worte:
Rituale. Und daneben: Vergessen.
23.
Hin und wieder ist von außen unm ö glich zu erkennen, wer eigentlich wen tröstet.
Max hat es schon zweimal bei seiner Feldenkrais-Lehrerin probiert. Fünf Wochen sind seit dem letzten Termin vergangen. Beim ersten Versuch war der Anrufbeantworter ausgeschaltet, beim zweiten, Tage später, ein neuer Spruch darauf. Sie wäre zur Zeit besser über Handy zu erreichen. Irritiert notierte er sich die Nummer. Hatte Charlotte nicht mehrfach behauptet, gar keines zu haben?
Während des Wählens überlegt er, was er auf ihre Mailbox sprechen würde. Doch schon nach dem zweiten Klingeln hebt sie ab. Ihre Stimme ist kaum wiederzuerkennen.
Charlotte erklärt, dass sie auf unabsehbare Zeit nicht arbeiten könne. Die Operation habe sie gerade hinter sich gebracht, jetzt beginne die Bestrahlung. Solche Nachrichten sind wie ein Kieselstein im Rasenmäher des Alltags. Es macht ein scharfes Geräusch, und der Motor fällt aus.
Max weiß nicht, was er sagen soll. Die Situation hat etwas Absurdes: Charlotte ist doch diejenige, die ihm beisteht, die Trostspenderin. Nicht andersherum! Sie klingt müde und erschöpft. Das erschreckt ihn. Hatte damals in der Schule ein Mitschüler nicht gelernt, wirkte das anspornend. Aber wenn ein Lehrer nicht mehr weiter wusste, wurden alle unruhig.
Fieberhaft überlegt er. Irgendetwas Kluges müsste ihm jetzt einfallen, etwas Nicht-Abgedroschenes. Aber mit Klugheit allein kann man niemand trösten. Das weiß er selbst. Etwas von sich müsste mit dabei sein. Wie in einem Zaubertrank ein Haar oder ein Tropfen Blut. Aber es kommt nichts, die Formel fällt ihm nicht ein. Auf keinen Fall möchte er es dahin kommen lassen, dass sie ihn trösten muss wegen seiner Unfähigkeit zu trösten. Auch das hat er oft genug am eigenen Leib erlebt.
Er braucht eine ganze Weile, um zu begreifen, dass sie gar nichts von ihm erwartet. Dass er überhaupt angerufen habe, zähle so viel, sagt sie.
Was sie mit tonloser Stimme über die Schlachten in und um ihren Körper berichtet, macht ihm noch mehr Angst. Das Ausgeliefertsein sowohl gegenüber diesen böswilligen Zellen als auch dem medizinischen Apparat. Er kann sich nicht einmal ausmalen, was sie alles mit ihr machen, das ist das Schlimmste daran. Seine Fantasien werden durch keine Erfahrung gebremst.
Da erinnert er sich an die vielen Gespräche mit ihr auf der Liege sitzend. Sofort strahlt ein warmes Gefühl in das Telefonat. Er sieht Charlotte vor sich auf dem Hocker, wie sie ihn ansieht während seiner Hiobsbotschaften, wenn wieder eine Verschlechterung eingetreten, wieder ein Stück Normalität verloren gegangen war. Nun gelingt es ihm zuzuhören wie sie, ohne alles auf sich und seine Ängste und seinen Körper zu beziehen, ohne sich abzuwenden. Selbst dann nicht, als ihre Stimme immer brüchiger wird und schließlich in Tränen ertrinkt.
Sie versucht, aus dem Brunnenloch des Leids zu klettern, indem sie sich wieder und wieder für seinen Anruf bedankt. Bis sie merkt, wie unangenehm ihm das ist. Genau das hilft wiederum ihr, endlich hat sie festen Boden unter den Füßen. – Es ist mühsam, das Trösten, und wenn es wirken soll, darf man scheinbar keine Angst haben, sich die Hände schmutzig zu machen.
» Das werde ich Ihnen nie vergessen«, sagt sie noch einmal.
Max weiß, dass auch er diesen Anruf nicht vergessen wird.
Plötzlich versteht er, dass er zum Trösten kein Abitur braucht. Er muss weder die Geschichte der Erbauungsliteratur oder rührselige Stufen-Gedichte auswendig kennen, noch die Definitionen der » Spiritual Care«-Forscher abwarten, noch wissen, was Psychologen, Soziologen, Anthropologen dazu alles herausgefunden haben. Er braucht nicht einmal eine Erklärung für das Leid
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