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Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Titel: Mein Schutzengel ist ein Anfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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oder einen wasserdichten Gottesbeweis. Trösten heißt nicht, Antworten zu finden. Es reicht, da zu sein. Kein Stress. Anstrengend ist auch das, weil » da sein« – also mehr als nur anwesend sein – alles andere als einfach ist.
    Und man darf keine Angst haben, dabei die Rollen zu wechseln, vom Getrösteten zum Tröster und wieder zurück.
    Stunden später sind die Zweifel wieder da.
    Hätte er Charlotte nicht irgendetwas anderes mitgeben können als seine Stimme? Einen Satz nur, der hängen bleibt. Wenigstens das. Margot hat das doch bei ihm auch geschafft, und Karl.
    Mit solchen Gewissensbissen bleibt man verdammt allein. Zum ersten Mal denkt Max darüber nach, wie sich seine Freunde wohl gefühlt haben, als sie ihn zum ersten Mal im Rollstuhl sahen. Er hat ihre Sprachlosigkeit immer vom Tisch gewischt und gedacht, damit wäre die Sache erledigt. Vielleicht saßen auch sie irgendwann daheim, so wie er jetzt, und überlegten, was sie hätten sagen sollen. Das Schlimme ist nur, dass er ihnen nicht hätte helfen können. Niemand kann einem Tröster helfen, der glaubt, versagt zu haben.
    Obwohl es dauernd danebengeht, wird über den gescheiterten Trost nicht gesprochen. Ist wohl beiden Seiten peinlich. Zensuren für den Tröster zu vergeben, wäre ein Affront. Den Trost lässt man lieber unbefleckt, wie Glaube, Liebe, Hoffnung. Zu zerbrechlich für die Wirklichkeit.

24.
    So eine Leber scheint vernünftiger zu sein als der ganze Mensch.
    Beinahe hätte er seine Leber vergessen. Beim Abendessen fällt sie Max ein, seine sträflich vernachlässigte Freundin. Kaum im Bett, legt er die Hand auf den Brustkorb. Wenn ich heute wieder heule, sagt er sich, dann muss an der Sache was dran sein. Wenn nicht, dann eben nicht. – Ohne eindeutige Beweislage ist er jedenfalls nicht bereit, seinem Körper, inklusive Leber, zu trauen.
    Nichts passiert. Nur ein winziges Stechen unterhalb der Hand, wie aus Eifersucht. Vielleicht bildet er sich das auch nur ein. Das hat er nun davon. Noch eine Enttäuschung mehr. Er überprüft erneut sein Gemüt wie der Pilot die Instrumente vor dem Abflug. Alles ruhig, keine besonderen Vorkommnisse, weder Euphorie noch Trauer, nur graustichiger Alltag. Ein paar Minuten vergehen, da spürt er, wie Tränenflüssigkeit in seine Augen schießt. Und dann muss er niesen, das kennt er von den letzten Versuchen. Gleichzeitig verstärkt sich das Gefühl, sein Kopf würde auf das Kissen gedrückt. Schon geht die Achterbahnfahrt los, die ihn diesmal bis auf den Pausenhof der Grundschule führt. Nach der Pause müssen die Schüler sich nach Klassen sortiert in Zweierreihen aufstellen. Irgendetwas ist gerade vorgefallen, nur was genau bekommt er nicht zu fassen. Er stöhnt auf. Eine Träne platzt aus dem rechten Auge auf das Kopfkissen. Die Stimme der Vernunft ruft etwas wie: Aha, jetzt haben wir es also amtlich, das mit der Leber ist keine Einbildung, aber eine andere, viel mächtigere – die eines Süchtigen – antwortet: Halt die Klappe, lass es doch einfach mal laufen, und misch dich nicht immer ein!
    Also assoziiert er weiter herum mit » Wut« und » Feind« und » Empörung«, und noch bevor der Begriff sich verdichtet, spürt er, wie ihm das Blut in den Kopf schießt. Aha, es geht dieses Mal also um Scham. Und um Schuldgefühle. Auch das linke Auge fließt über, aber da ist noch mehr. Ein Schrei und gleichzeitig sieht er sich in seinem Kinderzimmer stehen an dem Morgen, als der Hamster verschwunden war. Über Nacht hat er den Käfig aus Nachlässigkeit offen stehen lassen. Unbewusst hat er damit einer sonderbaren Beziehung ein Ende gesetzt, einer, die von Beginn an von Entfremdung gezeichnet war. Während der letzten Monate hatte er ihm das Futter nur noch durch die Gitterstäbe geschüttet. Ihn ansonsten ignoriert, bis er ihn diese Nacht in den Freitod zwang. – Hat er nicht genau so sein Leben lang Beziehungen beendet? Durch Aushungern? Nur ja nicht selbst den Schlussstrich ziehen. Es ist ein Muster in seinem Leben, er erkennt es mit staunendem Entsetzen. Und genauso ist er jahrelang mit seinem Körper umgegangen. Er hat versucht, ihn durch Nichtbeachtung zu strafen, und dabei nur sich selbst getroffen.
    Manchmal ist die Wahrheit so simpel, dass es wehtut. Hätte ihm diese Erkenntnis jemand ins Gesicht gesagt, selbst einer mit Karls Autorität, hätte er nur mit Trotz reagiert. So aber schämt er sich höchstens dafür, dass seine Leber mehr weiß als er selbst.
    Beim Frühstück in einem Café ist

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