Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
ein Blatt Papier und einen stumpfen Bleistift. Ohne Eile kramt er so lange in der Schublade, bis er das Plastiklineal aus Grundschultagen gefunden hat. Die Beschriftung hat sich schon lange abgelöst. Es ist nun vollkommen durchsichtig.
Mit einer sauberen Linie teilt er das Blatt in zwei Hälften. Über die linke schreibt er: Tröstliche Gedanken und über die andere: Sachen, die mich überhaupt nicht trösten.
Mit der rechten Spalte fängt er an.
Anderen geht es noch schlechter. – Der Sinn dieses Satzes hat sich ihm nie erschlossen. Was sollte ihm das Wissen helfen, dass es noch ärmere Schweine gibt als ihn? Der Trost, den man aus fremdem Leid zieht, ist wie Fastfood: billig, schnell zu haben und verursacht Blähungen.
Wenn Max ehrlich ist, kann er sich der Versuchung des Vergleichens auch nicht entziehen. Also malt er einen kaum sichtbaren Pfeil Richtung links. Eines seiner Lieblingsvorbilder ist nämlich eine uralte Nonne. Er hat sie bei einem Urlaub in Südtirol vor ihrem Kloster beobachtet. Ein ungefähr gleichalter Pfarrer hatte sie gerade zu ihrem klapprigen roten Golf eskortiert. Auf der Rückbank war bereits der Rollstuhl festgeschnallt. Vom Rückspiegel baumelte ein Rosenkranz, den man auch ohne Lesebrille verwenden konnte. Die Krücken verstaute sie auf dem Beifahrersitz. Der Pfarrer faltete die Hände, als sie in weitem Bogen ausparkte, riss sich dann aber zusammen und winkte ihr nach. So cool, ohne jede Coolness, will auch Max mit seiner Gebrechlichkeit umgehen.
Es könnte schlimmer sein. – Eine Variante der ersten Aussage, nur ohne andere in die Pfanne zu hauen. Ja, es könnte schlimmer sein, aber eben auch besser. Und im Zweifelsfall wird es ja von alleine irgendwann schlimmer. – Im Schnitt ist es also genauso schlimm, wie es ist. Das beruhigt Max nicht.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. – Manchmal, wie bei diesem Satz, ist es mehr die Formulierung, an der er sich stört. Sobald es nach Mottenkugel oder Privatfernsehen klingt, fühlt er sich abgestoßen. Trost wird so schnell schal wie ein frisch gezapftes Bier.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. – Der Vers steht stellvertretend für alle Spruchweisheiten, die ihm auf die Nerven gehen. Dann streicht er ihn wieder durch, denn er hat mit seiner Situation augenscheinlich gar nichts zu tun. Stattdessen schreibt er summend auf die linke Seite einen Vers aus einem Lied von Richard Strauss: Morgen wird die Sonne wieder scheinen.
Je länger er darüber nachdenkt, desto unklarer wirken nicht die Sätze, sondern die Überschriften. Eine andere Betonung, eine andere Haltung, eine andere Tonart – und schon passen sie nicht mehr.
Ist das alles?
Erst nach längerem Nachdenken fällt ihm noch etwas für links ein.
Wenigstens bin ich auf eigenen Füßen von Stuttgart nach Genua gelaufen, und ich war in Istanbul und … Ja, die dreißig Jahre Unversehrtheit trösten ihn. Dass er so vieles schon erlebt, so viele Städte gesehen hat. Die Erinnerung daran hilft ihm über das unentdeckt Bleibende hinweg. Das Fernweh lässt sich so niederhalten. Meistens wenigstens.
Hätte ich xxx auch ohne Behinderung gemacht? – Diese Hilfsfrage funktioniert eigentlich immer: Spagat auf dem Schwebebalken machen beispielsweise, oder: unter Wasser Haie beobachten. Die Antwort fällt immer eindeutig aus.
Kinder? – Das Fragezeichen ist größer als das Wort. Max kommt darauf, weil er an diesem Tag in der Zeitung zwischen den Katastrophenmeldungen die über ein kleines Mädchen gelesen hat: Eine Fünfjährige war versehentlich drei Stationen weiter als der Rest der Kindergartengruppe gefahren. In der Polizeiinspektion bekam sie ein Malbuch und wurde wenig später von den erleichterten Erzieherinnen abgeholt. Mehr nicht. – Für die Tränen in seinen Augen geniert Max sich immer noch, deswegen das Fragezeichen. So schnell wird er niemandem eingestehen, wie sehr ihn der Anblick von Kindern tröstet. Eher beißt er sich die Zunge ab.
Direkt unter Kinder? schreibt er in einer Reihe:
Warme Suppe
Kartoffelacker
(Geld – tröstet allerdings nur, wenn man genug davon hat. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Genau genug.)
Heimatgemeinde
Umarmung
Trösten die ganz einfachen Dinge und Gesten am besten? Manchmal reicht schon der Begriff, von dem etwas Wärmendes ausgeht. » Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« – So ist das also gemeint.
Max nimmt das Lineal in die Hand und hält es sich vor die Augen. Alle Sätze verschwimmen. Er grinst. Dann schreibt er
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