Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Dann weiht sie ihn in ihre eigene Kranken- und Heilungsgeschichte ein. Sie stamme aus dem Toggenburg und reise dem Meister schon seit Jahren nach. Auch sie habe einst kaum mehr laufen können, ebenfalls eine Nervengeschichte. Und entdeckte dann Qi-Gong und den Meister. Sie lobt dessen Klarheit, die Einfachheit seiner Anweisungen, ohne dass Max ihr widerspricht. Seit zwanzig Jahren übe sie nun täglich von vier Uhr morgens bis um acht. Tag für Tag. Sie sagt es mit einem beseelten Lächeln. Dann ruft ein Gong alle Pantoffelträger in den Seminarraum zurück.
Max bleibt noch einige Augenblicke stehen, um seinen Tee auszutrinken. Irgendetwas ist hier anders als sonst, auch bei dem Gespräch eben, er kommt nur nicht darauf, was.
Bei dem dritten heilenden Laut, der für ihn genauso klingt wie der erste, verliert er die Orientierung. Atmet aber tapfer weiter, auch gegen den Strom, immer wieder aufgemuntert durch ein Lächeln der Toggenburgerin.
In der nächsten Pause kommt, als hätten sie sich abgesprochen, Inge auf ihn zugesegelt, jüngst mit ihrem Mann von Berlin an den Chiemsee gezogen, um dem Meister nahe zu sein. Auch sie, früher Physiotherapeutin, heute nur noch Qi-Gong-Jüngerin, ist sich sicher: Ihm könne geholfen werden, das bisschen Rollstuhl ließe sich wegüben. Wenn er irgendetwas bräuchte, solle er sich melden. Fünf, sechs Stunden täglich müsse er üben, wie sie, dann … Max nickt.
Mit zwei Sätzen fängt sie ihn schließlich ein: » Du musst dich selbst heilen. Aber davor musst du nachschauen, ob noch genug Liebe zu dir da ist.«
Etwas Ähnliches hat doch auch Karl gemeint, oder nicht? – Schon ruft der Gong wieder in den Seminarraum.
Stundenlang lässt Max auf des Meisters Geheiß das Qi in seinem Körper kreisen. Um dann, am Ende des ersten Seminartages, für einige Atemzüge eine vage Ahnung zu haben, eine körperliche Vorstellung, was das sein könnte.
Der Meister selbst hält sich bei der Bekehrung von Max vollkommen heraus. Wie auch Jesus seine Hauptaufmerksamkeit nicht auf den Lahmen richtet, sondern auf das Volk und die anwesenden Hohepriester. Seine Anweisungen sind klar, aber nie persönlich. Bis er auf einmal, am späten Nachmittag, über den Tod spricht.
» Es gibt so viele Vorstellungen, was nach dem Tod sein könnte. Die Christen haben ihren Himmel, die Buddhisten das Nirwana. Jeder will woandershin. Ich weiß nicht, welchen Ort ich mir aussuchen würde. Jetzt eine Entscheidung zu treffen, ist viel zu früh. Aber wenn es so weit ist, möchte ich so weit sein, selbst zu bestimmen, wohin ich gehe.«
Einige seiner Schüler lassen den Block sinken, überfordert von seiner Radikalität. Der Meister lächelt, dieses Mal sehr breit, und fährt fort: » Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir hier, in diesem Raum. Statt also Zeit damit zu verschwenden, über Geister nachzudenken, ob es sie nun gibt oder nicht, oder ob es einen Gott gibt oder mehrere oder keinen, sollte man sich auf die Suche nach ihnen machen.«
Dann steht er auf, faltet die Hände und verbeugt sich leicht. Durch den Mittelgang verlässt er den Raum wie ein Priester. Erst als er weg ist, folgen ihm die Schüler.
Auf dem Weg zur S-Bahn schließt sich Max die dritte für ihn abgestellte Schülerin an, eine Feldenkrais-Lehrerin aus Frankfurt, die schon seit zwanzig Jahren auf des Meisters Spuren wallfahrtet.
Zum dritten Mal an diesem Tag wird ihm versichert, dass er mit den Übungen alles wegbekommen würde. Er müsste nur üben, üben, üben, am besten vierundzwanzig Stunden täglich. Und dann erzählt sie ihm frohgemut von zahlreichen, von ihr beglaubigten Heilungen.
So viele Erfolgsgeschichten sind noch nie an einem Tag an ihn herangetragen worden. Am liebsten würde Max einen Bus chartern und die ganze Bagage zur Spezialklinik am Chiemsee karren, um dort ein wenig Zuversicht zu verbreiten. Erst in diesem Augenblick fällt ihm auf, dass er bis gerade eben den ganzen Tag ohne Häme und Spott ausgekommen ist. Und das, obwohl alles so fremd für ihn war. Um sich selbst nicht untreu zu werden, ruft er am Abend Tom an und erzählt ihm so eindringlich von Inge & Co., bis dieser hustend anfängt zu lachen.
Am zweiten Tag fühlt er sich bereits wie ein alter Hase und gibt den Männern, die ihn dieses Mal hinauftragen, fachmännisch Ratschläge. (Der Wecker hatte um sechs geklingelt, damit er vor der Abfahrt noch eine Stunde üben konnte.) Die Pausen verkürzt ihm eine Frau aus Rosenheim, auch sie durch stetiges
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