Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
doch gerade, dass die Welt ihm entzogen wird.
Ein Blick auf die vielen Haken bestätigt zunächst Sandras Vermutung. Er ist bereits ein Mönch ohne Kloster, auf Wanderschaft vielleicht. Nein, das stimmt so nicht. Korrekter müsste es heißen: Mein Körper ist bereits ein Benediktinerkloster.
Dann zählt er zusammen. Bei einer realen Aufnahmeprüfung wäre er wahrscheinlich durchgefallen. Vierzehn von vierundsiebzig Regeln könnte er beim besten Willen nicht unterschreiben, das wäre – zumindest wenn Benedikt in der Jury säße – wahrscheinlich zu viel. Bei den anderen fiel ihm ein » Ja« größtenteils leicht. Und einige Regeln sind wohl absichtlich so formuliert, als ob Schummeln erlaubt wäre.
Alles in allem zufrieden mit dem Ergebnis, räumt er das Büchlein zurück ins Regal.
Das wärst du wohl gerne: ein Eremit mit bester Verkehrsanbindung in alle Theater der Stadt. Ein Einsiedler mit einem kaum überschaubaren Freundeskreis. Widersprüche liegen dir bekanntermaßen. – Vor zwei Wochen hast du, zur Erinnerung, deinen Körper noch als Kerker bezeichnet. Nun als Kloster. Redest du dir die Lage absichtlich schön? Wobei du nicht der Einzige bist, der sich dieses Tricks bedient: Der Zweck heiligt beim Trösten alle Mittel. Wer möchte dem widersprechen?
Wie gut nur, dass du das orangefarbene Heftchen auf die anderen Bücher im Regal gelegt hast. Das erleichtert mir das Lesen, während du schläfst.
Wenn du weitergeblättert hättest, nur zehn Seiten nach dem abgehakten Fragebogen, wärst du vielleicht auf folgenden Satz gestoßen:
» Und wenn die Engel, die uns zugewiesen sind, täglich bei Tag und bei Nacht dem Herrn über unsere Taten und Werke berichten, dann Brüder, müssen wir uns zu jeder Stunde in Acht nehmen …«
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass du die Stelle überlesen hättest.
Am nächsten Tag ist die Alte Pinakothek an der Reihe. Auf den Breitwand-Schinken will er diese eine, universal gültige Geste des Trostes finden, nach der er sich zunehmend sehnt. Ein Bild, vor dem man gebannt stehen bleibt und erlöst weitergeht. Tom hat angeboten mitzukommen. Er ist inzwischen auch angestachelt von der Trostjagd. Außerdem hat er in einem anderen Jahrtausend mal Kunstgeschichte belegt, zumindest im Nebenfach.
Raus aus der Krankheit, rein in die Kunst.
Max ist den Fußballern der Nationalmannschaft immer noch verbunden, dass sie ihm diese Losung eingegeben haben. Mittlerweile weiß er bei jedem Kino, ob es rollstuhltauglich ist, und war so oft im Theater wie seit seinem Studium nicht mehr.
Aber das ist nur das äußerliche Teilhaben. Viel tiefer geht doch, dass du wieder mitschwimmst in diesem Strom, dieser dich so beglückenden Fülle. Dass etwas auf dieser Welt alle Stürme überdauert, alle Schmerzen, alle Kriege, jeden Tod, beseelt dich doch. Sich jedem Zerfall widersetzt und dem Zerfall etwas entgegensetzt.
Du hast wieder in dein Leben zurückgefunden, glaube ich.
Während die beiden Freunde Saal um Saal abklappern, berichtet Tom ihm von seiner jüngst entdeckten Lebensmittelallergie. Er sei nun auf fast alles allergisch, unbedingt müsse er jedoch Weizen und Zucker meiden. Ob das was bringt, weiß er auch nicht, immerhin glaubt er schon eine leichte Verbesserung zu spüren. Eigentlich setzte die schon ein in dem Augenblick, als seine Ärztin mit strenger Miene die Verbotsliste vorlas.
Ohne sich abzusprechen, bleiben sie gleichzeitig vor einem großformatigen Gemälde stehen. Der geschundene Leib Christi. Marias verzweifelt emporgereckte Hände. Weinende Jünger. Maria Magdalena kruschelt an dem Leichentuch herum. – Niemand tröstet irgendwen. Alle leiden, jeder vollkommen für sich allein. Kein Trost, nirgends.
Die unzähligen Variationen der Passion und der Kreuzabnahme zeigen entweder unbeteiligt dreinblickende Zeugen oder diese Solisten der Trauer. Keine Großaufnahme von Umarmungen, keine Kamerafahrt über gemeinsam vergossene Tränen. Nur stilles, einsames Leid.
Zunehmend verblüfft laufen Tom und Max die restlichen Säle ab. Irgendwer muss Maria doch im Arm halten. Sie stützen. Aber nein, niemand. Selbst wenn sie berührt wird, geschieht dies mit einem Blick, der nicht ihrem Schmerz gilt, sondern leer aus dem Bild herausragt.
Tom deutet auf ein Bild, das auf den ersten Blick definitiv nichts mit Trost zu tun hat, sondern üppig wogende weibliche Brüste zeigt.
» Das ist Trost für mich. Brauchst du ja nicht meiner Frau sagen. Frauen und schlafen. Vielleicht bleibe ich
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