Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Üben von ihrer gemeinsamen Krankheit geheilt.
Kurz vor Ende des Seminars lässt der Meister im Stehen alle sechs heilenden Laute hintereinander weg üben. Der sitzende Max tut erst eifrig mit, bis seine Gedanken abschweifen. Und nach einer halben Stunde regt sich die wohlvertraute Verstocktheit, sein Widerstandsgeist ist erwacht: Er überlegt, ob der Meister nicht doch Deutsch sprechen könnte und dies nur aus Angst vor seinen redseligen Schülerinnen nicht zugibt. Nimmt er mit seinen kleinen Schlitzaugen überhaupt wahr, wer da im Publikum sitzt? Wahrscheinlich ist es ihm komplett egal. Kein einziges Mal hat er sich eingemischt, etwas korrigiert. Ist er überhaupt anwesend?
Plötzlich ist das Seminar zu Ende.
Der Meister verbeugt sich wieder. Lang anhaltender Applaus brandet auf. Er steigt von dem Podest und schreitet gemessenen Schrittes im Mittelgang gen Ausgang. Doch plötzlich geschieht etwas vollkommen Unerwartetes. Er ändert die Richtung und zwängt sich durch die überrascht aufstehenden Schüler nach hinten. Einige halten im Zusammenpacken inne und starren ihn an. Schließlich bleibt der Meister vor Max stehen und schüttelt ihm wortlos die Hand. Dann geht er weiter. Die Schülerinnen sind erstarrt. Teils entzückt, teils eifersüchtig nicken sie dem Rollstuhlfahrer zu.
Max fühlt sich ertappt.
Manchmal reicht ein einfacher Handschlag für eine Heilung aus. Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle außer sich; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen.
29.
Bestimmte Menschen sehen den Trost vor lauter Tröstu n gen nicht.
»Du bekommst immer mehr etwas von einem Eremiten, so eine stille Weisheit. Fast etwas Mönchisches.« Sandra lächelt vieldeutig. Es klingt nach einem vergifteten Kompliment. Ist das die Revanche wegen der Blamage in Sachen Leber? Auf Max wirkt ihre Beobachtung jedenfalls genauso schmeichelhaft wie verletzend. Die darin mitschwingende Unterstellung, er wäre einsam, passt ihm nicht.
Sandra merkt, dass sie über das Ziel hinausgeschossen ist, und sagt: »Ein bisschen mehr könntest du dich manchmal über dein Schicksal beklagen. Jammer doch mal, sonst wächst dir am Ende ein Heiligenschein! Und der passt weder zu deinem Dreitagebart noch zu dem Designersofa.« Sie klopft mit der Handfläche auf das Kissen.
Max grinst schweigend. Inzwischen nur geschmeichelt.
» Wie soll ich jammern, wenn du da bist?«
Sandra verdreht die Augen.
Als sie gegangen ist, kramt er ein orangefarbenes Reclam-Heft aus dem Bücherregal. Anhand der Benediktsregel möchte er herausfinden, ob er wirklich wie ein Mönch lebt. Abgesehen von der unfreiwilligen Keuschheit.
Die meisten Forderungen, die der heilige Gründer des nach ihm benannten Ordens aufgestellt hat, leuchten Max spontan ein. Schon allein deshalb, weil sie längst in den Grundwortschatz des zivilisierten Zusammenlebens eingegangen sind. Anderes befremdet ihn: die Gnadenlosigkeit und das Einfordern eines radikalen Gehorsams. Die Rigorosität hat allerdings auch etwas Beruhigendes. Wer Verbote mit einer solchen Vehemenz ausspricht, weiß um deren Uneinhaltbarkeit. Ansonsten könnte man sie ja auch als Bitte formulieren. Da heißt es beispielsweise: » Keiner darf im Kloster dem Willen seines eigenen Herzens folgen.« – Die Wehmut ist für Max unüberhörbar. Und gleichzeitig das Wissen um die Vergeblichkeit dieses Gebots. Das Herz tut doch eh, was es will! Das wusste Benedikt sicher ebenso gut. (Außerdem passt es nicht zusammen mit der wenig später aufgestellten Forderung, von der Liebe nie zu lassen.)
Unmittelbar auf das Klosterliebesverbot folgt eine dreiseitige Aufzählung sehr knapp gehaltener Maximen zur Lebensführung für Mönche. Max nimmt einen Bleistift in die Hand und hakt alles ab, was er für sein Leben unterschreiben kann, gespannt, ob er den Kloster-Test bestehen wird.
Die ersten Regeln orientieren sich locker an den Zehn Geboten, da kann er bedenkenlos Haken dahintersetzen. Erst bei der Forderung » Den Leib in Zucht nehmen« zögert er. Gilt für ihn nicht genau das Gegenteil? Er streicht den Satz durch und schreibt daneben: » Sich nicht vom Leib in Zucht nehmen lassen.« Und hakt ihn ab.
Nackte bekleiden, Kranke besuchen, Tote begraben und die Trauernden trösten, überall uneingeschränkt: ja klar. Aber soll er sich wirklich dem Treiben der Welt entziehen? Er könnte vielleicht, aber er will es nicht. Im Gegenteil, seine größte Angst ist
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