Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
sie bevorzugen auch in diesem Fall das Widersprüchliche. Lieber beharrt jeder auf eine Sonderbehandlung – und möchte doch gleichzeitig die anderen überzeugen, dass der eigene Weg der erfolgversprechendste wäre.
Was tröstet dich?
Es ist eine hinterhältige Frage. So viel hat Max inzwischen herausgefunden. Auf die erste Antwort ist nicht viel zu geben. Er nickt sie ab und wartet auf die zweite. Zunächst kommt nämlich meist nur Unverständnis oder im Idealfall ein vages Poesiealbum-Gestopsel. Die Gerissenen unter seinen Gesprächspartnern versuchen, ihn mit Plattitüden ruhigzustellen: Dass mich jemand in den Arm nimmt, ist für mich Trost. – So etwas.
Doch selbst die Totalverweigerer haben ihm später bestätigt, dass sie von der Frage so schnell nicht loskamen. Und dass es dazu viel mehr zu sagen gebe, als man sagen könne.
Seine Erkundigungen haben Max die Mail-Bekanntschaft mit einem Kaplan eingebracht. Die recht unbestimmten Fragen: » Was tröstet dich, und wie tröstest du?« haben bei ihm einen Strom an Überlegungen ausgelöst, der sich nun in immer neuen Mails entlädt. Max kommt mit dem Ausdrucken gar nicht hinterher.
Ihm täte es gut, schreibt der Kaplan in der ersten, einmal darüber nachzudenken, was er eigentlich tue, wenn trauernde Menschen vor ihm sitzen, in der unübersehbaren Hoffnung, dass er sie wieder aufrichtet, zumindest stützt.
Zunächst galt es für ihn zu akzeptieren, dass es ihre Trauer ist. Nicht sein Vater war gestorben, sondern der des Mannes ihm gegenüber. Übereifer brachte nichts. Selbst das Mitleiden hat seine Grenzen. Das war eine bittere, aber auch befreiende Lektion.
Als Nächstes musste er lernen, dass die vielen Arten zu trauern, verwirrend unterschiedlich sind: Manche weinen, manche wollen alles begründet haben, und manche fangen bei einer Todesnachricht erst einmal an, ein Spiegelei zu braten.
Allen Trauernden gemein ist nur eines: Selbst die härtesten Knochen sind verletzlich wie sonst nie. Viel mehr, als sie je zugeben würden. Oft können sie nicht mehr beurteilen, was ihnen guttut und was nicht. – Max stockt beim Lesen, er fühlt sich ertappt: Weiß er eigentlich, was ihm guttut? Ganz selbstverständlich ist er die letzten Jahre davon ausgegangen, dass alles, was er sich antut, ihm zumindest nicht schaden würde. Vielleicht hat das gar nicht gestimmt. Wahrscheinlich ist er sich selbst ein miserabler Tröster und noch schlechterer Aufpasser gewesen. Dennoch hat er den Eindruck, dass sich in letzter Zeit etwas verändert hat. Manchmal ertappt er sich bei einer neuen Milde gegenüber dem eigenen Körper. Beim Gehen feuert er manchmal seine Beine an wie ein Motivationstrainer. Er hat sogar, völlig überfordert vom Angebot, in einer Drogerie eine Creme für seine geschundenen Füße erworben, und das als Mann! Wenn er sie aufträgt, dann mit einem fast schon heiligen Ernst.
Die angelesene Mail steckt er zu den anderen in eine Klarsichthülle. So viel sanft säuselnde Einfühlung erträgt er im Moment nicht. Heute möchte er sich mit Ignoranz trösten, mit Härte. Wie seine ehemalige Professorin. Sie ist bei seiner Umfrage die Einzige gewesen, die auch nach einigen Wochen Bedenkzeit Trost kategorisch ablehnte.
» Mich tröstet wirklich nichts«, schrieb sie. » Wenn ich an das denke, wo ich des Trostes bedürfte, kann ich nur verzweifeln. Das ist immer der Tod von vielen Menschen, die ich einmal kannte, von Leid, das einen ja auch selbst noch erwartet. Und deshalb denke ich an diese Sachen nicht. Summa summarum könnte man sagen: Trostbedürftig wäre ich unentwegt, aber ich kapituliere und bleibe an der Oberfläche des Denk- und Machbaren, weil ich sonst nur auf Notlösungen kommen könnte, um nicht zu sagen: Notlügen.«
Die frohe Botschaft des Kaplans vor Augen, glaubt Max ihr nicht mehr, fast gegen seinen Willen. Wie meinte der? Auch die harten Knochen möchten sich im Grunde nur vor ihrer eigenen Verletzlichkeit schützen … Außerdem hat Max nichts gegen Notlügen. Der Zweck heiligt beim Trösten alle Mittel. Oder etwa nicht?
Wenn er die Antworten des Kaplans und der Professorin nebeneinanderlegt, kommt heraus, dass jeder Mensch die Grenzen der eigenen Tröstbarkeit selbst festlegt. Dieser Gedanke beruhigt Max.
Schließlich zieht er die Kaplan-Mail wieder aus der Plastikhülle und liest sie zu Ende. Nun ist er sogar bereit, sich eine Predigt anzuhören, und mehr als das, sie anzunehmen.
» Und ich glaube, dass kein Mensch vollständigen Trost
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