Mein schwacher Wille geschehe
Nagelbetts, an dem er morgens vor Nervosität noch ein Stück Haut abgerissen hat, zeigt sich nun ein verkrusteter Blutrest. Er erschrickt darüber nicht. Weil das häufiger vorkommt, hat er Techniken entwickelt, das Glas so zu halten, dass es nicht gleich jedem auffällt.
Obwohl sie eher ein geringes Problem sein sollten, gelten Schuppen auf der Schulter als ein Zeichen für körperliche Ungepflegtheit. Als trockene Abstoßungen der Kopfhaut verweisen sie auf ein körperliches Unbehagen. Sie sind ein Signal dafür, dass einer mit sich nicht im Reinen ist. Sozial kompetente Friseure machen darauf aufmerksam. Probieren Sie doch mal dies. Seit dem letzten Mal ist es doch schon viel besser geworden. Nicht |187| wenige sind jedoch geneigt, lieber darüber zu schweigen. Sie müssten eingehender fragen. Und wer würde schon offen zugeben, dass das Herunterschütteln der Schuppen in eine Zwangshandlung übergegangen ist, bei der man immerzu verschorfte Stellen auf der Kopfhaut aufkratzt?
Anzeichen von Verwahrlosung bedeuten nicht zwangsläufig, dass der Körper voll und ganz aus dem Blick geraten ist. Es kann auch bedeuten, dass er auf aufdringliche Weise da ist. Er stellt sich einem als Fremdling in den Weg. Wer sich gehen lässt, fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, lässt aber vorhandene und naheliegende Möglichkeiten zum Gegensteuern ungenutzt. Sie kommen gar nicht erst in Betracht. Das muss keine Frage mangelnden Körperbewusstseins sein. Während in den gewöhnlichen Tagesabläufen nicht dauernd ein Bewusstsein vom Körper präsent ist, scheint er in Verwahrlosungsfällen zum Problem geworden zu sein. Ein Problem allerdings, das das Ich zumindest vorübergehend zu bearbeiten eingestellt hat. Der Körper geht nicht länger in einem homogenen Ich auf, sondern tritt als Störung in Erscheinung. Wenn vom Körperbewusstsein die Rede ist, bedeutet das nicht, dass alle Instanzen darauf ausgerichtet sind, die Problemzonen unter Kontrolle zu halten. Es ist die Ausstrahlung, die Aura der gesamten Erscheinung, die der Person Geltung verschafft. Aber hat man erst einmal den Makel im Detail entdeckt, ist es unmöglich geworden, im Spiegel das strahlende Ganze zu entdecken. »Die sensible Aufmerksamkeit auf sich«, schreibt der Philosoph Wilhelm Schmid, »umfasst daher die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, nur noch mit sich selbst beschäftigt zu sein.« 41
Die Strategien der Selbstmodellierung haben eine lange Geschichte hinter sich. Die Sorge ums Ich ist nicht nur anthropologisch verankert. Sehr früh ist auch damit begonnen worden, mit ihr zu experimentieren. So gehören zur Geschichte des Aufwachsens auch Spielformen der Reduktion. Jugendliche entwickeln Geheimsprachen oder verabreden sich untereinander, nur noch |188| mit einer Handvoll von Worten auszukommen. Wieder andere verzichten ganz auf Sprache. Es geht dabei weniger um die Sicherung eines Geheimnisses als um eine Vergewisserung der gemeinschaftlichen Geschlossenheit. Reduktionistische Rituale werden von Kleingruppen praktiziert, können sich aber auch, wie zum Beispiel im Punk, zu einer globalen Jugendkultur entwickeln. Nicht zufällig trat der Punk im Zeichen körperlicher Vernachlässigung auf. Die ästhetische Kraft von Minimalismen ist ungebrochen und für die Bildung von Gruppen von großer Attraktivität. Die Erfahrung oder bloß Vermutung einer Schwäche wird zu einer selbst gewählten Schwäche zusammengezogen und in eine gemeinschaftliche Stärke umgearbeitet.
Wie die Formen der Selbstreduktion auch auf den Einzelnen einwirken, schildert der amerikanische Schriftsteller Paul Auster in seiner autobiografischen Erzählung
Von der Hand in den Mund
. In ihnen vollzieht sich eine Art Verpuppung, eine Anverwandlung an Formen existenzieller Wahrhaftigkeit, aus der später der kreative Mensch hervorgehe. Auster beschreibt, wie er als junger Mensch auf den Spuren von James Joyces Ulysses nach Dublin aufbrach und dort in eine Art innere Isolation geriet. »Das Touristenbüro schickte mich zu einem Bed-and-Breakfast in Donnybrook, fünfzehn Busminuten vom Stadtzentrum entfernt. Abgesehen von dem älteren Ehepaar, das die Pension führte, und zwei oder drei Gästen, habe ich in der ganzen Zeit praktisch mit keinem Menschen gesprochen. Ich habe nicht einmal den Mut aufgebracht, einen Pub zu betreten.« 42 Auster lässt hier offen, ob seine soziale Scheu bereits zum fest gefassten Entschluss einer künstlerischen Selbststilisierung gehört. Wahrscheinlich trifft beides
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