Mein schwacher Wille geschehe
gesellschaftlicher Sensibilität.
Umso irritierender ist es, dass immer mehr Menschen der Sinn für die eigenen Gerüche abhanden gekommen scheint. Nichts ist bedeutender für ein intaktes Selbstwertgefühl, die Steuerungshoheit über das Verströmen der eigenen Gerüche zu haben. Der Markt für Deodorants und Parfum weiß inzwischen selbst Männer trotz aller Beharrungskräfte als eine verlässliche Zielgruppe. Wer stinkt, hat in der Regel nichts Eiligeres zu tun, als die Quelle des Gestanks zu beseitigen. Wer sich beim öffentlichen Verzehr mit Currysauce bekleckert, erleidet weniger den Makel beschmutzter Kleidung, über den sich eine fundamental liberalisierte Gesellschaft nahezu mühelos hinwegsetzt. Wer kleckert, erfährt gewissermaßen die gerechte Strafe dafür, die anderen mit Essensgerüchen konfrontiert zu haben. Aber obwohl Geruch unmittelbar wirkt und gerade deshalb so heftige Ablehnung hervorruft, lässt sich an der Wahrnehmung der schlechten Gerüche der anderen eine Art soziales Lernen beobachten.
In der S-Bahn-Szene fiel nicht zuletzt die Vermeidung eines |185| deutlich zum Ausdruck gebrachten Ekelgefühls der Mitfahrenden auf. Die meisten Fahrgäste waren um diskrete Distanzierung bemüht. Wer sich bereits gesetzt hatte, stand schnell wieder auf, um sich der olfaktorischen Wirkung der Ausdünstungen zu entziehen. Andere blieben einfach sitzen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Niemand, der sein Ekelgefühl offen zur Schau gestellt hätte. Die vorübergehende Fahrgemeinschaft in der S-Bahn hielt am Selbstbild eines funktionierenden sozialen Gebildes fest und zog es einem offenen Eklat vor, der unweigerlich eine Form von sozialer Deklassierung hervorgebracht hätte. Angst vor gewalttätigen Reaktionen war nicht mit im Spiel. Mit dem Mann wäre man wohl leicht fertig geworden. Man entschloss sich intuitiv für Toleranz, obwohl die Empfindlichkeit für schlechte Gerüche eher zugenommen hat. In dieses Schema einer aufs Funktionieren bedachten Egalität gehören auch die Reaktionen auf Verkäufer von Obdachlosenzeitungen oder Straßenmusikern, die einen Äquivalententausch simulieren, um das klare soziale Gefälle des Bettelns zu umgehen. Man gibt nicht, sondern kauft. Ein klares Geschäft, das einem auch jede weitere Auseinandersetzung mit dem Schicksal des anderen erspart.
Es fällt zuweilen schwer zu entscheiden, ob eine Form der Verwahrlosung psychischen Krankheitsbildern zugehört oder nur eine vorübergehende Störung oder Irritation im sozialen Funktionieren ist. In Bezug auf Willensschwäche oder den großzügigen Umgang mit Tugenden sind denn auch nicht die klar zu diagnostizierenden Pathologien von Interesse, sondern die kleinen Anfälle von Unlust, den Anforderungen allgemeiner Beweglichkeit und Alertheit zu entsprechen. Jeder kennt sie, die Neigung zur Verwilderung oder auch nur die generöse Selbsterlaubnis am Morgen, noch ein paar Minuten länger liegen zu bleiben. Mag Letzteres zum festen Repertoire einer geglückten Selbstkontrolle gehören, so befindet sich das Müffeln am Hemd, über das nach kurzer Unentschlossenheit befunden wird, noch einmal angezogen |186| werden zu können, bereits im Graubereich einer praktizierten Nachlässigkeit, mit der man kokettieren mag, die man aber längst nicht mehr in jeder Sekunde unter Kontrolle hat. Es ist ein riskantes Spiel, in dem die eigene Souveränität schnell auf der Strecke bleiben kann. Das ist insbesondere ein Problem des sozialen Typs Aufsteiger. Nie weiß er so recht, auf welcher Stufenleiter des Erfolgs er sich gerade befindet. Geht es noch aufwärts oder ist er bereits wieder auf dem Weg nach unten? Stets spricht er zu schnell und schwitzt zu leicht. Immer hat er das Gefühl, dass keiner über seine Witze lacht. Die Frage ist nicht, ob er für den Anlass auch passend gekleidet ist. Das sind, sieht man einmal etwas genauer hin, ohnehin nur wenige. Aber einmal auf der Party, stellt sich umgehend das Gefühl ein, nicht die richtigen Klamotten angezogen zu haben. Dabei hat er noch am Morgen genau darüber nachgedacht. In der Absicht, nicht allzu overdressed zu erscheinen, hat er ein legeres Jackett gewählt, von denen er ohnehin nur zwei im Schrank hat. Jetzt aber, wo alle anderen im dunklen Anzug erschienen sind, verursacht ihm sein Erscheinungsbild Pickel, und von den Schultern rieseln auffällig großporige Schuppen herab. Das Unbehagen steigert sich noch, als sein Blick auf seine Finger fällt, die sein Glas halten. Am Rand des
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