Mein schwacher Wille geschehe
war Trunkenheit nicht von jeher etwas Verwerfliches. Zunächst stellte sie, ganz im Gegenteil, eine Art heiligen Taumel dar. Alkohol wurde gern in Opferzeremonien zugegeben, und der Rausch war ein Zeichen dafür, dass der göttliche Geist das Opfer schon umfangen hatte. Es schien schwer vorstellbar, dass eine Substanz, die solche Wirkung hervorrief, nicht der göttlichen Sphäre entstammen sollte. Alkoholische Flüssigkeiten riefen die Heilige Kommunion erst hervor. Inzwischen steht die auffällige Wiederkehr der Tränkungsarten in der Öffentlichkeit im Zeichen sozialer Differenzierung. Nicht das öffentliche Trinken an sich ist verpönt. Es wird fein unterschieden, wie man es tut.
Immer häufiger jedoch tritt der Körper auf beinahe unbeteiligte Weise in Erscheinung. Gehört zum Trinkgebaren noch eine Form bewusster Inszenierung, so fällt der Körper oft nur noch als störendes Element auf. Er ist da, aber er ist kaum mehr Ergebnis eines erkennbaren Gestaltungsbedürfnisses. Über die bekannten Armutsmerkmale hinaus gerät eine Spezies neuer Verwahrloster in den Blick, so dass man immer häufiger Szenen wie die folgende beobachten kann: Sie scheinen beinahe reglos und driften ohne erkennbares Ziel durch den Stadtverkehr. Sie suchen niemandes Nähe, aber manchmal kann es passieren, dass man unverhofft mit einem von ihnen in Kontakt kommt: Nachdem er die S-Bahn betreten hatte, fiel eine Art atmosphärischer Schutzschirm auf, |183| den der Mann um sich gebildet zu haben schien. Der Waggon war gut besetzt, in seiner Nähe aber gab es genügend freie Plätze. Warum das so war, bemerkte man erst, als es zu spät war. Der Mann, jenseits der Sechzig, verströmte einen beißenden, kaum auszuhaltenden Geruch. Dabei war sein Äußeres nicht weiter aufgefallen. Auf den ersten Blick war kein Ausdruck eines akuten Mangels festzustellen. Die Kleidung, Jeans und Jackett, wirkte getragen, aber nicht abgewetzt, die Schuhe sauber. An seiner Erscheinung war nicht abzulesen, warum er so stark roch. Er selbst saß ruhig, ohne ein Anzeichen von Unwohlsein oder Scham, auf seinem Platz. Aber es war zweifellos er, der so stank.
Körpergeruch ist die drastischste Form zur Bestimmung eines gesellschaftlichen Unten. Er wirkt unmittelbar und lässt keine Ausflüchte oder abschweifenden Erklärungen zu. Nachlässige Kleidung oder schlechte Zähne mögen temporär sein, etwas, das mehr oder weniger leicht zu beheben ist. Die passenden Klamotten waren gerade in der Wäsche, der Termin beim Zahnarzt wurde verschoben. Über die soziale Stellung geben derlei Merkmale jedenfalls keine verlässliche Auskunft. Zwar kann auch der Gestank beseitigt werden, mitunter ist er auf ein körperliches Gebrechen zurückzuführen. Schlechter Geruch duldet jedoch keinen Aufschub. Als sozialer Makel hinterlässt er einen stärkeren Eindruck als verschmutzte Kleidung oder Trunkenheit. Es ist geboten, sofort etwas dagegen zu tun.
Schlechter Geruch erfasst den Wahrnehmenden vollständig. Es ist unmöglich, ihn als modische Note wie zerschlissene Jeans zu empfinden. Übler Geruch bleibt hängen. Wer ihn an sich einfach zulässt, befindet sich jenseits allen distinktiven Spiels. Geruch erreicht die anderen plötzlich und unverhofft, ruft aber keineswegs Abwehrreaktionen wie Angst hervor. »Während nämlich die Angst«, so der ungarische Philosoph Aurel Kolnai, »ihr Objekt als etwas Bedrohliches, etwas ›Stärkeres als ich selbst‹ intendiert, ist in der Ekelintention eine gewisse Geringschätzung ihres Objekts, |184| ein Gefühl der Überlegenheit enthalten. Als ekelhaft wird immer ein Ding empfunden, das nicht für voll genommen, nicht für wichtig gehalten wird: etwas, das man weder vernichtet noch flieht, sondern vielmehr hinwegräumt.« 40 In der sozialen Ordnung stellt man das Ekelerregende ganz nach unten.
Während die optische Wahrnehmung soziale Defizite zunächst vergleicht statt wertet, scheint der Geruchssinn rasch und unmittelbar durchzugreifen. Das ist nicht zuletzt neurologisch begründet. Müssen das Tasten und Sehen mehrere Stationen durchlaufen, ehe die Informationen im Gehirn ankommen und verarbeitet werden, erreicht der Geruch nahezu direkt und ungefiltert den Riechkolben im Gehirn. Wer stinkt, läuft also Gefahr, die stärkste Form sozialer Ablehnung zu erleben. Jemand der riecht, fällt schneller aus der Zuschreibung gesellschaftlicher Normalität als einer, der eine Alkoholfahne hat. Für Zuschreibungen dieser Art gibt es ein hohes Maß
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