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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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lassen sich wie die Zeichensprache einer fernöstlichen Körperkunst lesen, und die Hoffnung auf eine neue Nase ist in der arabischen Welt nicht minder verbreitet wie in den dekadenten Körperkulten der westlichen Hemisphäre. Kaum jemand bleibt von derlei Trends unberührt, und wenn es vorbei ist, hat man genug damit zu tun, die Zeichen auf |192| der Haut wieder weglasern zu lassen. »Bye, bye Arschgeweih«, singt Ina Müller. Wenn das mal nur so einfach wäre.
    Die Businesshotels in Bahnhofsnähe und die Landgasthöfe in der Provinz haben unterdessen flächendeckend auf Wellness umgerüstet. Die Nischen der Zeit, in denen man früher hoffte, endlich einmal etwas nur für sich tun zu können, sind inzwischen vollständig ausgefüllt, Abwehrstrategien zwecklos. Im entgrenzten Freizeitpark baumeln die Gehstöcke für Nordic Walking locker an den Handgelenken, und selbst wenn diese einmal nicht entschlossen und ergonomisch korrekt geschwungen, sondern eher lustlos hinterher geschleift werden, winkt anschließend doch das gute Gefühl, wenigstens ein paar Meter für die einfach nicht abzuschüttelnde Körpermasse absolviert zu haben, die hartnäckig behauptet, vom eigenen Leben angefüllt zu sein.
    Mit den sparsam dosierten Steigerungsintervallen körperlicher Ertüchtigung wächst auch das Bewusstsein für Eigenleistung. Wer einmal angefangen hat, ist auf dem besten Wege, nicht mehr aufhören zu können. Die einst eher sorgsam verborgene Unlust, dem eigenen Körper und seinen Geheimnissen zu nahe zu treten, wird nunmehr mit ungehemmter Inbrunst angegangen. Der nicht abreißende Zufluss neuer Informationen über Physis, Psyche und deren kompliziertes Zusammenspiel weckt Energien, gar einen Hauch von Übermut. Die Endorphine werden entfesselt, wo und wann immer es möglich ist. Ebenso großzügig wie mühelos wird das Glas Wein über den Durst am nächsten Morgen mit zehn zusätzlichen Minuten auf dem Waldweg bearbeitet. Ein bisschen Schwitzen reicht für den Anfang zum gefühlten Lasterausgleich. Man hat sich was gegönnt und ist mit sich und der nachträglichen Problembearbeitung geduldig. Alles unter Kontrolle. Die Service-Formate des Fernsehens und die Kundenzeitschriften der Krankenkassen bekräftigen die Mobilitätswilligen darin, auf gutem Wege zu sein. In den Wohnzimmern haben sich seltsame Gerätschaften zum Fernseher gesellt. Der private Raum hat als Refugium |193| vorübergehender Passivität ausgespielt und ist zu einem Kampfplatz der Selbstüberwindung auf dem Stepper oder dem Rudergerät geworden.
    Wo die Hanteln nicht regelmäßig in Gebrauch sind, dienen sie als Blickfang des Innendekors und mahnen, es so bald wie möglich doch noch einmal mit der Überlistung der Disziplinlosigkeit zu probieren. Zwar mehren sich mit jedem neuen Fitnessgerät die Gefahren der Prokrastination und der Unlust. Es gibt immer einen Punkt, an dem man sich fragt, ob man alles nicht einfach sein lassen sollte. Doch dann steht der Problemberater vor der Tür und weiß zu berichten, dass Hoffnung auf baldige Bewältigung besteht. Selbstaufgabe? Niemals! Morgen kann es, morgen sollte es so weit sein. Schon der Gedanke an eine Ausflucht wird mit Belehrungen der anderen nicht unter einer Viertelstunde bestraft. Im Gespräch mit den Kollegen und Freunden vergeht kein Tag, an dem nicht so oder so Rechenschaft darüber abgelegt wird, was man für sich und seinen Körper getan hat oder demnächst beabsichtigt zu tun. Alle machen mit oder haben wenigstens eine Begründung dafür zur Hand, warum sie umfangreiche Maßnahmen erst in Kürze ergreifen werden.
    Die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten sozialer Beobachtung und Gegenbeobachtung können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konzentration auf den Körper bis in die vermeintlichen Ruhezonen hinein einen ununterbrochenen Kampf gegen sich selbst eröffnet. Das niemals erschöpfte Angebot esoterischer Entspannungstechniken bewahrt nicht vor dem Stress, immer neu wählen zu müssen. Einfach bloß Ruhe wäre in Phasen der Kontemplation der nötigen Körperspannung abträglich. Man stimuliert sich für Bevorstehendes. Irgendeine Herausforderung, für die es sich bereitzuhalten gilt, naht immer. Grenzerfahrungen lauern und verlocken gleich um die Ecke. Das Extreme wird nicht mehr in der Einsiedelei gesucht, zur Verausgabung, sei es sportlicher oder sexueller Art, wird Rudelbildung bevorzugt.
    |194| Angesichts des Marathonlaufs von New York hat der französische Philosoph Jean
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