Mein skandaloeser Viscount
Stadt von mehr Vögeln, vor allem Tauben, bevölkert zu sein scheint als von Menschen. In den Sumpfgebieten der Lagune rudern Männern in morschen Kähnen durch das Schilf und schießen auf alles, was flattert. Die Vogeljagd ist offenbar ebenso populär wie gefiederte Freunde in Käfigen zu halten. Ich war freilich auch in einem Palazzo zu Gast, wo unzählige Singvögel frei herumschwirrten. Stellen Sie sich vor, in London zu einem Ball geladen zu sein, wo zwitschernde Vögel über den Köpfen der Gäste flögen und ihre Exkremente auf Möbel und die Festroben der Damen fallen ließen. Der Ton wäre außer sich vor Empörung. Die Fortbewegungsmittel in Venedig sind nicht Pferd und Wagen, sondern Gondeln, und es gibt hier tatsächlich Menschen, die behaupten, noch nie ein Pferd oder eine Kutsche gesehen zu haben. Jeden Tag, wenn ich in einer Gondel die Kanäle entlanggleite und die herrlichen Renaissancebauten an mir vorüberziehen, bedauere ich zutiefst, die Schönheiten dieser zauberhaften Stadt nicht mit Ihnen teilen zu dürfen. Nach unserer Hochzeit reisen wir gemeinsam nach Venedig, und ich zeige Ihnen all die romantischen Plätze.
Die Nächte sind sehr still, und auch halb verfallene Palazzi wirken im Mondschein verklärt. Die Sterne am samtschwarzen Himmel leuchten größer und heller als bei uns, das Licht der schwankenden Laternen der Gondeln bricht sich tausendfach in den glitzernden Wellen der Kanäle. Das alles und sehr viel mehr will ich unbedingt mit Ihnen gemeinsam erleben. Im Übrigen gibt es hier weit mehr zu essen als Zitrusfrüchte, Tomatensuppe und Makkaroni. Es gibt saftige Melonen, erlesene Schokoladen, delikate Fisch- und Muschelgerichte. Die Chefköche der vornehmen Häuser, die ich bisher besucht habe, sind erstaunlicherweise allesamt Franzosen. Es macht den Eindruck, als hätte dieser verfluchte Napoleon auch sämtliche Küchen des Kontinents erobert. Obgleich das Essen hier exzellent ist, hoffe ich sehr, dass Sie mir die versprochenen Banbury Cakes zukommen lassen, die ich vermisse. Allerdings nicht annähernd so sehr, wie ich Sie vermisse. Ich möchte nicht dreist erscheinen, aber jede Nacht starre ich an meine Zimmerdecke und denke an Sie und sehne mich danach, Sie in meinem Bett in den Armen zu halten. Diese Sehnsucht, Ihnen nahe zu sein, ist überwältigend.
Ich bin auf immer und ewig der Ihre,
Remington
15. November 1824
Mein lieber Remington,
Mrs Davidson wurde von mir angewiesen, sechs Banbury Cakes zu backen, die demnächst bei Ihnen eintreffen sollten, wobei ich nicht garantieren kann, dass sie den Transport unversehrt überstehen. Venedig scheint Ihrer Schilderung zufolge eine himmlische Stadt zu sein. Sie werden erfreut sein zu hören, dass Grayson beabsichtigt, Sie in den nächsten Monaten zu besuchen. Ich bin grün vor Neid, dass ich ihn nicht begleiten darf. Wieso ist es ihm erlaubt, in der Welt herumzureisen und sich jeden Wunsch zu erfüllen, während ich mit Mrs Lambert bis zu meinem Debüt in der Bibliothek eingesperrt bin? Ich würde liebend gern die Welt selbst kennenlernen, statt dazu verdammt zu sein, nur in Bü chern darüber zu lesen. Was noch viel schlimmer ist, während ich auf mein Debüt warte, verlangt sie von mir, ein Etikettebuch zu lesen und bestimmte Passagen daraus auswendig zu lernen: Wie vermeidet man einen Skandal. Zugegeben, ich fand darin auch eine Reihe wertvoller Ratschläge. Die Kunst, eine wahre Dame zu sein, wie es in diesem Buch geschildert und offenbar von der Gesellschaft gefordert wird, erfüllt mich mit Grausen. Ich glaube, ich werde demnächst von der Gesellschaft gemieden, nur weil ich falsch atme.
Nun zum Thema Bett … Obgleich niemand etwas von unserer Korrespondenz weiß – außer Grayson und meiner Kammerzofe, die Ihre Briefe ins Haus schmuggeln und meine heimlich zur Post bringen –, sah ich mich gezwungen, Mrs Lambert einige Fragen zu stellen. Die Lektüre des Benimmbuches bietet nämlich nur spärliche Hinweise auf eheliche Pflichten, und meine Unkenntnis in dieser Hinsicht beunruhigte mich. Mrs Lambert allerdings verweigerte jegliche Auskunft, zwang mich aber, den Satz „Ich bin eine ehrbare Dame“ vierhundertfünfzig Mal zu schreiben. Da ich nicht den Wunsch habe, den Satz „Ich bin eine ehrbare Dame“ erneut vierhundertfünfzig Mal zu schreiben, bitte ich Sie, mich darüber aufzuklären, was wirklich zwischen einem Mann und einer Frau geschieht.
Mit freundlichen Grüßen
Victoria
5. Dezember 1824
Meine
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