Mein Sommer nebenan (German Edition)
Wahlkampf-Flyern. »Hier – dein Slogan vom letzten Mal. Grace Reed: Im Dienste des Gemeinwohls. Sorry, Darling. Das ist einfach grottenschlecht.«
»Aber ich habe damit immerhin gewonnen, Clay«, rechtfertigt sich Mom, und ich bin fast ein bisschen beeindruckt, dass er ihr gegenüber so schonungslos offen ist. Tracy und ich wären es auch gern gewesen, als wir in der Schule wegen dieses Slogans ständig aufgezogen wurden.
»Das hast du«, versichert er ihr lächelnd, »dank deines Charmes und deines Könnens. Aber ›Gemeinwohl‹? Total antiquiert. Hab ich recht, Mädels? Flip?« Flip murmelt irgendetwas Unverständliches – mittlerweile kaut er auf seinem dritten Brötchen – und blickt sehnsüchtig Richtung Ausgang. Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er Fluchtgedanken hat. »Mit solchen Sprüchen hat zuletzt George Washington Wahlkampf gemacht. Oder vielleicht Abraham Lincoln. Wie gesagt, du musst zugänglicher werden, greifbarer, der Mensch sein, nach dem die Leute suchen. Es ziehen immer mehr Familien in unseren Bundesstaat, junge Familien – und genau die sind dein verborgener Schatz. Die Stimmen des einfachen Mannes bekommst du nicht, die hat Ben Christopher schon auf seiner Seite. Mein Vorschlag lautet also: Grace Reed arbeitet hart für Ihre Familien, denn Familie steht für sie im Mittelpunkt. Was hältst du davon?«
In dem Moment kommt der Kellner mit der Vorspeise. Er wirkt nicht überrascht, Clay an unserem Tisch zu sehen, und ich frage mich, ob sein Auftauchen hier nicht schon von langer Hand geplant war.
»Wow, das sieht ja fantastisch aus«, ruft Clay, als der Kellner eine große Schale Muschelcremesuppe vor ihn stellt. »Es mag Leute geben, die behaupten, wir Südstaatler wüssten Fischgerichte nicht zu schätzen. Aber ich gehöre zu den Menschen, die das schätzen, was sie vor sich haben. Und das hier« – er deutet mit seinem Löffel auf meine Mutter und sieht den Rest von uns grinsend an – »ist absolut hinreißend.«
Ich habe das untrügliche Gefühl, dass ich Clay Tucker von jetzt an noch öfter zu sehen bekommen werden.
Fünftes Kapitel
A ls ich am nächsten Tag in der prallen Hitze verschwitzt von der Arbeit nach Hause komme, wandert mein Blick als Erstes wie ferngesteuert zum Haus der Garretts hinüber, das ungewöhnlich ruhig daliegt. Dann entdecke ich Jase in der Einfahrt, der an einem großen silber-schwarzen Motorrad herumschraubt.
Ich gehöre absolut nicht zu den Mädchen, die auf schwere Maschinen und Lederjacken stehen. Michael Kristoff mit seinen schwarzen Rollkragenpullovern und düsteren Gedichten ist mir schon »Bad Boy« genug gewesen, und die Zeit mit ihm hat gereicht, um diesem Typ Jungen für immer abzuschwören. Wir sind fast das ganze Frühjahr zusammen gewesen, bis ich begriff, dass er weniger ein Höllenqualen leidender Künstler, sondern vielmehr selbst die personifizierte Höllenqual war. Trotzdem tragen meine Beine mich beinahe wie von selbst an dem ein Meter achtzig hohen Zaun – den Mom ganz nach dem Sprichwort »Liebe deinen Nachbarn, aber reiß deswegen nicht gleich den Zaun ein« wenige Monate nach dem Einzug der Garretts errichten ließ – vorbei und die Einfahrt hinauf.
»Hi.« Brillante Gesprächseröffnung, Samantha.
Jase stützt sich auf einen Ellbogen und mustert mich eine Weile schweigend. Seine Miene ist unergründlich und ich würde am liebsten wieder umkehren.
»Ich tippe mal, du kommst gerade von der Arbeit«, stellt er schließlich fest.
Mist. Ich habe völlig vergessen, dass ich immer noch in meiner »Breakfast Ahoy«-Kluft stecke. Errötend blicke ich an mir herunter – kurzer blauer Rock, weiße Bluse mit Matrosenkragen und ein rotes, zur Schleife gebundenes Halstuch.
»Richtig getippt«, murmle ich verlegen.
Er nickt und lächelt mich dann strahlend an. »Ich hab dich in der Aufmachung nicht gleich erkannt. Wo um Himmels willen arbeitest du?« Er räuspert sich. »Und warum?«
»Im Breakfast Ahoy neben der Anlegestelle. Ich arbeite in den Ferien lieber, als rumzusitzen.«
»Und das Outfit?«
»Hat mein Chef entworfen.«
Jase mustert mich noch einmal mit zusammengekniffenen Augen und sagt dann: »Muss eine blühende Fantasie haben, dein Chef.«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also ahme ich eine von Tracys coolen Gesten nach und zucke mit den Achseln.
»Lohnt sich der Job?«, fragt Jase und greift nach einem Schraubenschlüssel.
»Was das Trinkgeld angeht, kann ich mich nicht beklagen.«
»Ja, das
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