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Mein Tag ist deine Nacht

Mein Tag ist deine Nacht

Titel: Mein Tag ist deine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rose
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Gedächtnisses verliert, dann scheint damit auch die Identität verloren. Es ist ganz verständlich, dass Sie sich desorientiert fühlen.«
    »Ist es normal, dass Patienten
all
ihre Erinnerungen verlieren?«
    Er stockte, und ich nahm an, dass er mich nicht mit den medizinischen Fakten verwirren wollte, doch dann fuhr er zögernd fort. »Nun, meistens erleiden Blitzschlagopfer eine anterograde Amnesie, verlieren Erinnerungen an das Ereignis und leiden danach unter Gedächtnisproblemen. In Ihrem Fall scheint es sich um eine retrograde Amnesie zu handeln, einen Verlust des Gedächtnisses, was die Zeit vor dem Unfall betrifft.«
    Ich dachte darüber nach, wollte aber noch weitere Einzelheiten wissen.
    »Ich glaube, es wäre hilfreich, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten, über die ich mir Gedanken gemacht habe«, erklärte ich vorsichtig.
    Er lächelte freundlich und nickte.
    »Als ich den Herzstillstand hatte, wie lange war ich da ›tot‹?«
    Meine Direktheit schien ihn zu überraschen, doch er antwortete trotzdem.
    »Von dem Zeitpunkt ihres Eintreffens an haben wir Sie fast vierzig Minuten zu reanimieren versucht, ehe der Sinusrhythmus wieder einsetzte. Und ich glaube, die Ambulanzmannschaft hatte es davor auch schon mindestens zwanzig Minuten probiert.«
    »Ist es ungewöhnlich, so lange ›weg zu sein‹, ohne dass es zu ernsthaften Folgen kommt?«
    Er lächelte gönnerhaft. »Ich glaube nicht, dass Sie sich darüber Gedanken machen müssen, Lauren. Vom Gedächtnisverlust einmal abgesehen, scheinen Sie sich gut zu erholen.«
    »Aber es ist ungewöhnlich?«, beharrte ich, da ich unbedingt wissen wollte, ob dieser Körper klinisch tot war.
    Er schüttelte den Kopf. »Die Menschen reagieren unterschiedlich. Offen gestanden war ich schon ein wenig besorgt, nach einer so langen Zeit ohne Sauerstoff könnte Ihr Gehirn Schaden nehmen, aber sobald Sie wieder bei Bewusstsein waren, haben sich meine Befürchtungen zerstreut.«
    »Als Sie mich wiederzubeleben versuchten«, fuhr ich fort. »Haben Sie da erwogen, mich aufzugeben?«
    Dr.Shakir setzte sich nervös um und wich meinem Blick aus. Anstatt umgehend zu reagieren, erhob er sich, nahm meine Krankenakte vom Bettende und blätterte darin herum.
    »An einem Punkt«, sagte er leise, »da habe ich – zugegeben – gedacht, die Wiederbelebungsversuche hätten keinen Sinn mehr. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, es gut sein zu lassen, habe gedacht, Sie könnten zu schwer verletzt sein, um zu überleben. Doch dann habe ich gehört, wie Ihre Kinder draußen vor der Notaufnahme nach Ihnen gerufen haben, uns gebeten haben, Ihre Mama zu retten. Einer der kleinen Jungs sang: ›Mami, komm zurück. Mami, komm zurück!‹ Wir haben ein letztes Mal einen Elektroschock ausgelöst, und hier sind Sie.«
    Wohl wahr, dachte ich trocken. Hier war ich. Aber eben nicht Lauren. Nicht die Mutter der Kinder.
    Er legte die Notizen nieder und lächelte mich an, nicht mehr so nervös, nun, da ich keine unbequemen Fragen mehr stellte und ihn dazu zwang, seine Handlungen zu rechtfertigen, die, seien wir ehrlich, total danebengehen hätten können, wäre Lauren mit geschädigtem Gehirn aufgewacht und hätte dauerhaft Pflege benötigt. Wie wären Grant und die Kinder damit zurande gekommen, fragte ich mich? Soweit ich das beurteilen konnte, war Lauren die Starke, die, die diese zerbrechliche Familie zusammenhielt. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders zumute. Konnte ich denn in ihre Fußstapfen treten? War ich stark genug? Wollte ich es überhaupt versuchen?
    Ich schüttelte den Kopf, als mir aufging, dass ich mich schon wieder ins Gummizellen-Terrain verirrte. Übermäßiges Nachdenken führte an diesem Punkt zu gar nichts, in meinem Fall schon gleich gar nicht.
    Ich beschloss, stattdessen erst einmal zu versuchen, die medizinischen Hintergründe zu verstehen.
    »Dr.Shakir?«, fragte ich mit täuschend unschuldiger Stimme – Laurens Stimme, nicht meiner, begriff ich, da ich ja ihre Stimmbänder nutzte. »Als Sie gestern nach mir sahen, da hatten Sie sich über Blitzschläge kundig gemacht?«
    »Ja«, sagte er, und seine Augen verengten sich mit einem Hauch von Argwohn.
    »Haben Sie etwas über Opfer gefunden, die neue Erinnerungen hatten? Oder solche, die sich an Ereignisse erinnerten, für die sie keine Rechenschaft ablegen konnten?«
    Der Arzt kam und setzte sich wieder auf den Bettrand, bemüht, fürsorglich dreinzublicken, obwohl ich das Interesse in seinen Augen aufglimmen

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