Mein Tag ist deine Nacht
blickte Grant von den Kindern zu mir, dann schien er widerstrebend einen Entschluss zu fassen.
»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.« Er erhob sich. »Wir fahren nach Chessington und geben Mami etwas Zeit für sich allein.« Er sah zu Teddy. »Du auch, Teddy. Wenn wir erst mal da sind, wird’s dir auch gefallen.«
»Gar nicht«, grummelte Teddy. Er warf mir einen übelwollenden Blick zu, als Grant ihn hochnahm und ihn mir hinhielt, damit ich ihm einen Abschiedskuss gab.
Ich lächelte sie alle an und winkte dankbar, als sie aus dem Raum marschierten. Und als die Tür dann hinter ihnen zufiel, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus und wandte meine Aufmerksamkeit dem Fotoalbum zu, das Grant aufgeschlagen auf dem Nachttisch hatte liegenlassen. Ein, zwei Sekunden starrte ich auf die bezaubernde Braut, zog eine Strähne meines fast schulterlangen Haares vor mein Gesicht und spähte aus dem Augenwinkel darauf. Blond. Oh nein!
Einen Augenblick darauf kehrte Sally mit dem Spiegel zurück. »Ich habe gesehen, dass die Familie von dannen gezogen ist«, sagte sie. »Irgendetwas schien sie in Hochstimmung versetzt zu haben.«
»Grant fährt mit ihnen in die Chessington World of Adventures«, erklärte ich ihr.
»Die Glücklichen«, erwiderte sie. »Benötigen Sie etwas, oder soll ich Sie ein Weilchen in Ruhe lassen?«
»Sie könnten mir eine Frage beantworten und mich dann in Ruhe lassen«, erwiderte ich und hielt den Spiegel verkehrt herum, damit ich nicht hineinblicken konnte. »Wo genau befinde ich mich?«
Die Krankenschwester war schockiert. Es ist eigenartig, für wie selbstverständlich naheliegende Dinge gehalten werden, jene Dinge, die unsere eigenen kleinen Universen ausmachen. Sie wussten, dass ich mein Gedächtnis verloren hatte, aber niemandem war es in den Sinn gekommen, dass ich nicht einmal wusste, wo ich mich eigentlich aufhielt.
»Sie sind hier im St. Matthew’s Hospital in der Nähe von Little Cranford«, erklärte sie mir. »Tut mir leid, Lauren, wir waren wohl nicht sehr verständnisvoll, stimmt’s? Ich lasse Sie jetzt mal die Fotos anschauen und sich herrichten. Das Bad ist gleich hinter der nächsten Tür rechts. Die Elektroden können Sie runterziehen. Klingeln Sie nach mir, wenn Sie etwas brauchen, ich bin noch bis zwei Uhr da.«
Was meinen Aufenthaltsort anging, war ich noch immer kein bisschen schlauer. Von Cranford hatte ich noch nie gehört, ob jetzt Little oder wie auch immer. Etliche Minuten nachdem die Schwester verschwunden war, starrte ich noch immer auf die Spiegelrückseite und traute mich nicht, ihn umzudrehen. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und spähte hinein. Angesichts dessen, was ich sah, verschlug es mir buchstäblich den Atem. Ob das nun ein Traum war oder nicht, Wahnsinn war es in jedem Fall, denn trotz all meines Leugnens, sah es so aus, als würde ich hier
wirklich
im Körper einer anderen Frau festsitzen. Einer hübschen anderen Frau mit klarer englischer Pfirsichhaut und teuer blondierten Strähnchen, obwohl ich, wenn ich den Spiegel hochhielt, sehen konnte, dass die blonden Locken oben am Kopf angesengt waren.
Lauren hatte eine niedliche Stupsnase, Schmolllippen und beneidenswerte Wangenknochen. Aber die Augen waren nicht, wie erwartet, von demselben klaren Blau wie auf dem Hochzeitsfoto, sondern graugrün. Meine Augen, erkannte ich mit Erleichterung. Augen, die Jessica Taylor gehörten.
Ich erinnerte mich an den alten Spruch, dass jemandes Augen das Fenster zu seiner Seele seien. Nun, diese Fenster spiegelten, trotz der Verkleidung, meine Seele wider. Teddy hatte recht, dachte ich zerknirscht. Seine Mutter war fort, und hier war ich, steckte in ihrem Körper fest, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was für ein Mensch sie war oder wie zum Teufel ich hierhergelangt war.
Im Badezimmer inspizierte ich meinen neuen Körper mit einer Art verwirrter Distanz. Ich hatte mein Gesicht mit seiner schnell bräunenden Haut und dem gewellten, schulterlangen braunen Haar immer für durchaus attraktiv gehalten. Aber Lauren besaß volle Brüste, eine tolle Taille und lange Beine. Ich fuhr über die silbrigen Ausdehnungsstreifen auf ihrem Bauch und an ihren Oberschenkeln – meinem Bauch und meinen Oberschenkeln – und dachte daran, dass sie drei Schwangerschaften hinter sich hatte, eine davon mit Zwillingen. An den Rippen hatte sie Prellungen, wohl die Folge der Wiederbelebungsversuche nach dem Herzstillstand. Als ich die blauen Flecken
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