Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben
achtjährigen Schwester Atifet im Garten. Irgendwann verließen die Kinder heimlich das geschützte Areal. Der kleine Agron lief vor ein Auto und wurde überfahren. Er starb im Krankenhaus. Nach dem Tod von Agron kehrte die Familie Deutschland den Rücken zu, ging zurück in den Kosovo. Meine Mama musste damit klarkommen, dass ihr Vater eine zweite Frau heiratete – das war damals dort tatsächlich möglich, wenn auch nicht üblich! – und alle gemeinsam – also die komplette Familie inklusive Ehefrau eins und zwei – unter einem Dach lebten. Die zweite
Frau meines Opas brachte wieder einen Jungen zur Welt, sie gab ihm den Namen Agron. Als der Halbbruder von meiner Mutter elf Jahre alt war, wollte er beim Fußballspielen den verschossenen Ball aus einem See holen. Er konnte aber nicht schwimmen und ertrank. Meine Mama war damals 18 Jahre alt. Das klingt fast wie ein Fluch, der in unserer Familie auf dem Namen Agron gelegen hat.
Aus unserer ehemaligen Auto-Werkstatt haben sie während des Kosovo-Krieges alles geklaut. Papa besaß ziemlich viel Werkzeug und Geräte, davon war bei seiner Reise 1999 in unser Heimatdorf nichts mehr zu sehen. Überhaupt blieb nicht viel übrig von unserem alten Leben. Deshalb kann ich auch nur wenige Fotos aus meinen Kindertagen in der alten Heimat bieten. Alle anderen sind verbrannt.
Unser neues Haus – es ist jetzt kein klassischer Bauernhof mehr – sieht heute wieder genauso aus wie das alte! Papa hat mitgeholfen, es wieder herzurichten. Drum herum stehen allerdings noch viele Ruinen, weil die meisten Menschen im Kosovo nicht das Geld haben, ihre alten Gebäude wieder aufzubauen. Eine Menge wurde im Krieg zerstört, nicht nur materielle Dinge. Häuser kann man wieder aufbauen. Aber die zahllosen Seelen, die noch heute unter den grausamen Erlebnissen leiden, die kann man nicht mehr reparieren.
Onkel Daut hat den Krieg nicht überlebt. Er war relativ wohlhabend. Unter anderem gehörten ihm 20 Kühe, was im Kosovo schon einen großen Wert darstellte. Soldaten vertrieben ihn während des Krieges von seinem Hof. Er musste mit seiner Familie sein Hab und Gut einfach so hergeben und wurde in einen 20 Kilometer von seinem Haus entfernten Ort verbannt. Seine Kühe weideten aber weiter auf dem Feld neben seinem alten Hof. Er wollte wenig später nur schauen, was aus seinen Tieren geworden ist. Er fühlte sich verantwortlich für sein Vieh, wollte sich um seine Kühe kümmern, damit sie nicht jämmerlich verenden. Das war im Sommer 1999 mitten im Kosovo-Krieg. Er lief zu seinem Feld, übersprang den Zaun und ging auch in sein ehemaliges Haus. Das hatte aber
bereits die serbische Armee unter Beschlag genommen. Diese Menschen ließen meinem Onkel keine Chance. Augenzeugen erzählten uns später, dass er wohl noch versucht hatte, sich tot zu stellen. Doch es gab kein Entkommen. Sie töteten ihn auf eine sehr grausame Art und Weise. Er wurde regelrecht massakriert. Danach wickelten sie ihn in zwei Plastiktüten ein und ließen ihn viele Tage in der prallen Sonne liegen. Seine Familie machte sich tagelang Sorgen, traute sich aber nicht zum alten Haus. Zehn Tage später fasste sich sein Sohn Mustafa mit zwei anderen Männern ein Herz und suchte seinen Vater. Die Kühe waren da schon alle weg – geklaut oder geschlachtet. Mustafa hat seinen Vater so furchtbar zugerichtet vorgefunden. Ein Mensch wurde einfach weggeworfen wie ein Stück Vieh. Das war ein schlimmes Erlebnis in einer sehr grausamen Zeit.
Wir hatten zu Beginn in Deutschland immer noch gehofft, dass sich die Lage im Kosovo wieder beruhigt und wir zurückkehren können. Aber dem war nicht so. Wir besaßen dort unten keine Reichtümer und keinen Luxus. Aber immerhin ein kleines Häuschen – und das wichtigste Gut: unsere große Familie. Wir hatten zunächst nicht geplant, so lange in Deutschland zu bleiben. Doch da der Weg für uns zurück unmöglich war, wurde unser Asylantrag relativ schnell genehmigt. Heute könnte ich mir nicht mehr vorstellen, wieder zurückzugehen. Dafür bin ich jetzt in Deutschland viel zu sehr verwurzelt.
Integration leicht gemacht
Meine ersten Gehversuche in der neuen Heimat
Unsere Anfänge in Deutschland waren schwierig. Wir kamen zu einer Zeit ins Land, in der Ausländer nicht gerade willkommen waren. Beschimpfungen gehörten zu unserem Alltag. Mama konnte lange kein Deutsch, da war der Fall für viele klar: »Typisch Ausländer, warum lernen die denn nicht die Sprache des Landes, in dem sie leben
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