Mein Traummann die Zicke und ich
Augen nach oben wandern, als würde sie nach einer Antwort suchen. »Lass mich mal nachdenken … Warum? Warum? Warum, warum, warum? … Vielleicht war ich neidisch auf dich?« Sie sagt es so, als wäre es eine Frage.
»Neidisch auf mich?«
Sie nickt.
»Könnte sein. Du hattest alles. Eltern, die dich auf Händen getragen haben. In allen Fächern gute Noten. Der Liebling der Lehrer. Und du warst das beliebteste Mädchen auf der ganzen Schule.«
»War ich das?«
»Tu nicht so, als wüsstest du das nicht. Du hattest alles. Und alle mochten dich.«
»Nur so lange, bis du mit mir fertig warst.«
Sie lacht. »Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig … Und nach St. Benedict zu kommen war wie ›Willkommen in Violets Welt‹: Ich hatte die Wahl, weiter als eine Außenseiterin dahinzuvegetieren oder die Königin von ihrem Thron zu stoßen und mich selbst zur Königin zu machen. Wie du weißt, war ich noch nie jemand, der sich gern untergeordnet hat.«
»So hast du mich gesehen?«
Ist es nicht unglaublich, wie die Wahrnehmung anderer von einem selbst sich von der eigenen Einschätzung unterscheiden kann?
Sie antwortet nicht. Stattdessen legt sie sich die Hand aufs Herz und sagt affektiert: »Vielleicht ging es auch gar nicht um dich, vielleicht ging es nur um mich? Was hältst du davon, Violet? Ich war jedes Jahr ›die Neue‹, weil Mum es nie lang genug an einem Ort ausgehalten hat und meist schon vor Ablauf eines einzigen Schuljahres Hummeln im Hintern hatte und weiterziehen musste. Kannst du dir vorstellen, wie das war, immer das neue fremde Mädchen zu sein? Sich immer wieder anzupassen, neue Freunde zu suchen? Das verstehst du nicht, oder? Du hattest alles, was ich wollte, und du warst dir dessen noch nicht einmal bewusst. Ich habe dich gehasst, weil ich du sein wollte. Und das habe ich gemacht: Ich habe mich in dich verwandelt, in Fräulein Superbeliebt, und du wurdest ich, die Außenseiterin.«
Sie hält einen Moment inne, als würde sie sich noch einmal an alles erinnern. Ihr Lächeln dabei ist bitter.
»Und dann komme ich nach Hause und stelle fest, dass dich
meine Familie mit offenen Armen empfangen hat, dass du im Begriff stehst, ihr Lieblingskind zu heiraten, mit dem du dann das perfekte Paar bilden würdest. Nein, das konnte ich ja wohl nicht zulassen, nicht nachdem ich so viel Zeit investiert hatte, um dich fertigzumachen, nur um dann festzustellen, dass du dich von ganz allein wieder berappelt hattest und schon wieder alles bestens bei dir lief. Das Leben ist für Violet eben ein gro ßer, reifer, saftiger Pfirsich …«
»Und für dich ist es nichts als saure Trauben?« »Schön gesagt, aber, ja, verglichen mit deinem ist es das. Rein äußerlich betrachtet könnte man meinen, ich hätte alles, was man sich nur wünschen kann, einen gutaussehenden Ehemann, die schönsten Kleider, ein Haus in Paris, viel Geld, für die meisten Menschen der Traum vom Glück schlechthin. Aber genau das ist es ja, mein Leben ist ein Traum, nichts als Traum, Fassade, Schein. An der Oberfläche ist alles Cocktails und Haute Couture und Küss-die-Hand, aber untendrunter ist alles nur erbärmlich.« Sie vergräbt das Gesicht zwischen den Händen, und während sie weiterspricht, wird sie von Schluchzern geschüttelt. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, warum mein wunderbarer Ehemann schon früher abgehauen ist? Nicht wegen der Arbeit. Sondern weil er Zeit mit seiner Geliebten verbringen will, die er angeblich längst verlassen hat. Er hatte zwei Wochen Urlaub und hat es geschafft, davon nur zwei Tage mit mir zu verbringen!«
Die Schluchzer steigern sich in regelrechtes Wehklagen, ihre Schultern beben heftig.
Sie ist nichts als ein Häufchen Elend. Eine einzige Ansammlung von Unsicherheiten. Ich weiß nicht, ob ich sie schlagen oder umarmen will. Oder halt, wenn ich sie jetzt umarmen würde, dann nur, um sicherzustellen, dass das Messer, mit dem ich sie ersteche, sich auch tief zwischen ihre Schulterblätter gräbt.
Aber dann spreizt sie ihre Finger und sieht mich durch sie an, und trotz des herzzerreißenden Geheuls hat sie keine Tränen in den Augen, und als sie ihre Hände ganz vom Gesicht nimmt, verstehe ich, dass das, was ich für unterdrückte Schluchzer gehalten habe, unterdrücktes Gelächter war.
»Gott, du bist immer noch so gutgläubig wie eh und je.«
»Wie bitte?«
»Wenn du diesen Schwachsinn glaubst, kann man dir alles verkaufen. Jonathan würde mich niemals betrügen, das würde er nicht
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