Mein ungezähmtes Herz
losgehen.«
»Großartig.« Es war noch früh, doch Del hatte bereits großen Appetit.
»Leg nur schnell meine Sachen raus, dann geh und besorg etwas zu essen. Wir frühstücken in der Suite, wie gewöhnlich. Mir knurrt schon der Magen.«
Und seiner Schutzbefohlenen ging es vermutlich ebenso.
Während Cobby im Schrank herumkramte, sagte Del zu sich selbst:
»Dann können wir loslegen und sehen, was der Tag uns bringt.«
15. Dezember Grillon’s Hotel
Sangay war hin- und hergerissen und traurig. Halb versteckt hinter einer Palme in einem großen Topf beobachtete er von der Rückseite des Foyers das geschäftige Treiben, mit dem die Haushalte des Colonel-Sahibs und der Memsahib die Abreise vorbereiteten.
Er wünschte, er könnte mitgehen. Alle waren so nett zu ihm gewesen, obwohl sie ihn gar nicht kannten – jedenfalls nicht richtig – und hatten ihn einmütig als Mitglied ihrer Gesellschaft akzeptiert. Sangay hatte darauf geachtet, Zusammenkünfte, bei denen alle aufeinandertrafen, zu meiden, damit nicht ein Haushalt den anderen darauf aufmerksam machte, dass er nicht dazugehörte. Dass er nirgends wirklich hingehörte.
Bislang waren die Götter ihm gewogen gewesen, was er nicht begreifen konnte, denn er handelte nicht ehrenvoll – er war der Helfershelfer, das Werkzeug eines Bösewichts –, doch noch hatten die Götter ihn nicht gestraft.
Noch ließen die Götter ihn die Befehle des bösen Mannes ausführen.
Sangay hatte herumgeschnüffelt und alles getan, was man
ihm aufgetragen hatte, aber keine Briefrolle gefunden. Er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie sie aussehen musste – der Kapitän hatte seine Karten und Befehle in ähnlichen Rollen aufbewahrt –, jedoch nichts Vergleichbares entdeckt. Und nun reisten alle ab.
Er hatte versagt.
Vor lauter Angst rutschte ihm das Herz fast in die Hose; mit einem tiefen Seufzer und einem letzten Blick auf die beinahe fröhliche Unruhe rund um die drei Kutschen, die vor dem Hotel aufgereiht standen, schlich Sangay durch einen Nebenflur zum Hintereingang.
Er schlüpfte durch die Tür und eilte auf leisen Sohlen zu der Ecke, an der er mit dem bösen Mann zusammengestoßen war, wobei er bei jedem Schritt betete, dass der Kerl ihn einfach umbrachte, wenn er von dem Fehlschlag erfuhr. Und es nicht mehr für nötig hielt, auch seine Maataa sterben zu lassen.
Die Nerven zum Zerreißen gespannt bog Sangay um die Ecke. Fast hätte er den Mut verloren, als er schon wieder um ein Haar mit dem bösen Mann zusammengestoßen wäre.
»Na, hast du sie?«
Sangay bemühte sich, Haltung zu bewahren. Er reckte das Kinn und zwang sich, dem Mann direkt ins Gesicht zu sehen.
»Ich habe alle Taschen und Zimmer durchsucht, Sahib. Die Briefrolle ist nirgends zu finden.«
Der Mann stieß eine Reihe schlimmer Wörter aus, die Sangay oft im Hafen gehört hatte. Stoisch wartete der Junge auf seine Bestrafung, einen Schlag oder Schlimmeres. Fliehen hatte keinen Zweck.
Sangay spürte, dass der Mann ihn wütend anstarrte, und wappnete sich. Die Hände des Kerls waren schon zu Fäusten geballt und hingen schwer an ihm herab.
»Was soll der Aufruhr?« Der Mann deutete mit dem Kopf zum Hotel.
»Wo wollen die hin?«
Sangay versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
»Ich habe gehört, dass sie zu einem großen Haus fahren – Somersham Place – in einer Grafschaft namens Cambridgeshire. Sie rechnen damit, heute Abend anzukommen, aber das Wetter macht ihnen Sorgen – sie meinen, es schneit bald, und befürchten, dass sie dann aufgehalten werden oder zumindest langsamer fahren müssen.«
Der wütende Blick des Mannes verfinsterte sich weiter. Nach kurzem Zögern fragte er:
»Gehen die anderen beiden Männer auch mit?«
»Ja, Sahib, aber so wie ich es verstanden habe, nicht in den Kutschen. Sie werden reiten.«
»Verstehe.«
Das klang alles andere als ermutigend, doch bislang sah es nicht danach aus, als wollte der Mann ihn züchtigen. Sangay begann sich zu fragen, ob die Götter tatsächlich weiter über ihn wachten, trotz allem.
»Sie reisen also ab, und du hast weder die Briefrolle noch irgendeinen Brief gesehen, obwohl du überall gesucht hast?«
»Oh ja, Sahib. Ich war in jedem Zimmer, sogar in denen der Dienstboten. Nirgendwo eine Rolle oder ein Brief.«
»Dann trägt sie jemand bei sich. Sehr gut«, knurrte der Mann barsch, »entweder der Colonel oder einer der beiden Männer in seinem Haushalt, schätze ich. Also konzentrierst
du dich auf die, behalt sie gut –
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