Mein ungezähmtes Herz
sehr gut – im Auge. Irgendwann, irgendwo werden sie die Rolle ablegen. Und dann nimmst du sie und gibst Fersengeld – verstanden?«
Sangay wagte es, die Stirn zu runzeln.
» Fersengeld , Sahib?«
»Du rennst wie der Teufel. Als ob der Leibhaftige hinter dir her wäre – denk dran, die Gesundheit deiner lieben Mama hängt davon ab, dass dir die Flucht gelingt. Wo du auch bist, sobald du die Briefrolle in die Finger bekommst, haust du ab – ich bin immer in deiner Nähe und beobachte dich. Wenn ich dich weglaufen sehe, treffen wir uns.« Die Lippen des Mannes kräuselten sich.
»Umgehend.« Er beugte sich herab und brachte sein Gesicht ganz nah an Sangays heran.
»Verstanden?«
Die Augen des Jungen waren groß wie Untertassen, und seine Kehle war so trocken, dass er kaum noch schlucken konnte.
»Ja, Sahib, ich verstehe.« Lieber hätte er Auge in Auge einer echten Kobra gegenübergestanden.
Der Mann schien mit dem, was er in Sangays Gesicht sah, zufrieden zu sein. Langsam zog er sich wieder zurück und richtete sich auf.
Sangay zitterte innerlich, fühlte sich aber gezwungen zu sagen:
»Vielleicht legen sie die Rolle nicht gleich heute ab, Sahib, weil sie unterwegs sind.«
»Könnte sein. Wahrscheinlich wird sie erst wieder hervorgeholt, wenn dieses Haus erreicht ist. Hört sich an, als handele es sich um ein Landhaus.« Der Mann musterte Sangay.
»Auf dich dürfte es wie ein Palast wirken.«
»Der Mann, dem es gehört, scheint ein Herzog zu sein.«
»Tatsächlich?« Der Erpresser schwieg einen Moment, ehe er weitersprach.
»Dann ist davon auszugehen, dass es riesig ist. Wir treffen uns dort, heute Nacht, um zehn, hinter den Stallungen. Die dürften ebenfalls riesig sein.« Wieder musterten die hellen Augen den Jungen durchdringend.
»Wenn du die Rolle in die Finger kriegst, bringst du sie heute Abend mit, aber du kommst auch, wenn du sie nicht erwischst, hörst du?«
Sangay ließ den Kopf hängen und zwang sich zu nicken, obwohl er völlig verzweifelt war. Dieser Alptraum hörte einfach nicht auf.
»Ja, Sahib.«
»Du willst doch nicht, dass deiner Mutter etwas zustößt, oder?«
Entsetzt schaute der Junge auf.
»Nein, Sahib! Ich meine, ja – ich werde da sein. Ich will nicht, dass meiner Maataa etwas passiert, Sahib.«
»Gut.« Der Mann neigte den Kopf.
»Dann geh zurück, sonst vermisst man dich noch. Los jetzt!«
Sangay drehte sich um und rannte beinah fort. An den Stallungen vorbei zum Hotel zurück, doch anstatt durch die Hintertür und das Foyer zurückzukehren, folgte er der Gasse bis zur Straße und lugte um die Ecke.
Die Aufbruchsstimmung rund um die Kutschen war auf dem Höhepunkt. Wahrscheinlich hatte ihn niemand vermisst. Mustaf, Kumulay und Cobby waren jeweils einer Kutsche
aufs Dach gestiegen und verstauten das Gepäck, das eine Armee von Dienern ihnen unter Janays Aufsicht anreichte. Die Frauen standen in ihren bunten Saris, leuchtende Tücher um den Kopf geschlungen, auf dem Bürgersteig, zeigten auf dieses Bündel und jene Tasche und beratschlagten mit Janay und den anderen, wohin das jeweilige Gepäckstück wandern sollte. Der Colonel und die Memsahib standen näher am Hoteleingang, überwachten das Durcheinander und warteten auf die Abfahrt.
Diese Leute hatten ihn wesentlich netter behandelt, als alle anderen Menschen in seinem Leben, trotzdem musste er ihnen ihre Freundlichkeit vergelten, indem er den Colonel bestahl.
Sangay hatte das Gefühl, der letzte Dreck zu sein.
Aber er wusste sich nicht zu helfen. Hätte er nur den eigenen Tod zu fürchten, wäre er, so hoffte Sangay, wohl mutig genug gewesen, dem bösen Mann zu trotzen, doch dass seine Maataa umgebracht wurde – noch dazu auf bestialische Weise –, konnte er nicht zulassen. Die Schuld durfte ein guter Sohn sich nicht aufladen.
Sangay atmete tief ein und versuchte, sich zusammenzureißen. Dann sah er, dass die Frauen begannen, in die Kutschen zu steigen, und beeilte sich, sich unauffällig in das Gedränge zu mischen.
8
15. Dezember Albemarle Street, London
Auf Dels Hand gestützt setzte Deliah einen Fuß auf den Tritt der ersten Kutsche. Als sie kurz innehielt, um von diesem Aussichtspunkt aus über alle Köpfe hinweg nach denen zu sehen, die in die anderen beiden Kutschen einstiegen, bemerkte sie, dass der junge Inder – den Bess als Laufburschen des Colonels bezeichnete – hastig hinter einer Mauerecke hervorkam. Er sprach mit Janay und anschließend mit Mustaf, der auf das Dach der dritten
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