Mein Vater der Kater
Anblick schmerzte und verwirrte mich, und ich suchte nach eröffnenden Worten, die es mir ermöglichen könnten, alles zu erklären, wobei ich gleichzeitig hoffte, daß mein Vater dies tun würde.
Und dann sprach mein Vater auch. Er sagte: »Miau.«
»Hast du Hunger?« fragte Joanna besorgt. »Hat unser kleines Kätzchen ein Hüngerchen?«
»Miau«, sagte mein Vater erneut, und mir war in diesem Augenblick so, als bräche mir das Herz. Er sprang von Joannas Schoß und trottete durchs Eßzimmer. Ich sah mit verschleiertem Blick, wie er Francois in die Ecke folgte, in die der Diener eine flache Schale mit Milch stellte. Dauphin schleckte sie eifrig auf, bis auch der letzte weiße Tropfen fort war. Dann gähnte er und streckte sich und ging gemächlich zurück zur Tür, wobei er einen flüchtigen Blick in meine Richtung warf – einen Blick, in welchem sehr deutlich zu lesen stand, was ich nun zu tun hatte.
»Was für ein herrliches Tier!« rief Joanna aus.
»Ja«, sagte ich, »der Kater war der absolute Liebling meiner Mutter.«
Die Entführung
W egen des halben Sweaters nannten sie ihn Snoo. Er hatte das zerfetzte, wollige Ding irgendwo im Schotter gefunden, geschwärzt von dem Ruß, der fest an jedem unbelebten, auf der Erde übriggebliebenen Gegenstand haftete. Und nicht nur dort, sondern auch an der Haut einiger lebender Wesen, so etwa an der seines Freundes Jucky. Snoo hatte sogar mal gemeint, Jucky sei ein Schwarzer, damals, als er ihm in der Schlange, die nach der Kartoffel-Ration anstand, begegnet war. Jucky hatte sich dauernd gekratzt, wegen der vergifteten Haut, aber auch wegen der Läuse, denen die Verbrennungen und Wunden auf dem dürftigen Angebot von Fleisch, das er noch an seinem skelettartigen Körper trug, nichts auszumachen schienen.
Snoo mochte seinen Namen. In den ganzen sechzehn Jahren seines Lebens hatte er noch nie einen Namen gehabt, jetzt aber doch – mit freundlicher Genehmigung des halben Sweaters. Halb, weil ein Ärmel fast völlig aufgeräufelt war und er vorne ein großes Loch hatte, so daß nur noch die Nase eines komischen Hundes und die Buchstabenfolge SNOO zu sehen waren. Als er das Ding aus dem Schotter hatte herausschauen sehen, dort in der Gegend, die sie ›Nichtbetreten‹ nannten, weil der Boden noch zu heiß war, wie die Bosse sagten (der Boden war heiß gewesen, solange Snoo denken konnte – und das galt im übrigen auch für Jucky, und der war noch gute drei Jahre älter), da hatte er vor Aufregung aufgeschrien und den Schatz ausgegraben, ohne die Nichtbetreten-Aufforderung zu beachten. Alles, was aus Stoff oder Wolle hergestellt war, war ungeheuer wertvoll geworden, und der Fund war für Snoo etwas so Wunderbares, Großartiges, erfüllte ihn mit so gutem Willen, daß er an jenem Tag sogar eine Freundschaft schloß (Freunde waren eher gefährlich und eine Belastung, weil sie manchmal was vom Essen abhaben wollten).
Aber Jucky war in Ordnung. Snoo fühlte sich in seiner Gesellschaft glücklich. Und auch Jucky hatte noch nie einen Freund gehabt und verzieh es Snoo deshalb, daß er drei Jahre jünger und deshalb drei Jahre weniger hungrig war.
Snoo bekam schnell spitz, daß Jucky ein viel besserer Dieb war als er. Natürlich klauten alle – es war lediglich eine Frage des Geschicks und des Ausmaßes. Die Bosse hatten versucht, dem einen Riegel vorzuschieben. Sie hatten in der Nachkriegswelt mehr Geld für Polizeikräfte zur Verfügung gehabt als für jede andere organisierte Aktivität, aber diese Polizeikräfte konnten einfach all der kleinen Diebereien, die zum Dasein der Vagabunden gehörten, nicht Herr werden. Und die Vagas, wie sie kurz hießen, waren das Volk. Die Reichen, diejenigen, die Orte hatten, wo sie ständig wohnen konnten, brauchten den Schutz der Polizeikräfte nicht so sehr wie die Vagas, die sich gegenseitig bestahlen. Die Reichen blieben reich, weil sie ihre Zäune elektrifiziert, ihre Hunde zum Töten abgerichtet und sich im Schießen geübt hatten.
Eines Tages entdeckte Jucky das Haus so eines Reichen und machte Snoo einen unglaublichen Vorschlag.
»Laß uns das Haus besetzen«, sagte er.
Snoo war fassungslos. »Bist du verrückt geworden? Was willst du? Zehntausend Volt den Rücken rauf? Oder vielleicht von irgendeinem Hundevieh die Kehle durchgebissen kriegen?«
»Du hast doch das Haus noch gar nicht gesehen«, erwiderte Jucky. »Du hast noch gar nicht gesehen, was der da hat.«
»Was er hat, das will er auch behalten.«
»Nun komm schon
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