Mein Wahlkampf (German Edition)
Zwar sei das Motiv nicht schlecht, aber es vermittle eben keinen Inhalt. Wir bräuchten «einen klaren content für unsere Kommunikationslinie» – ohne den gehe uns namentlich der «entscheidungsschwache Wechselwähler» von der Fahne. Niedergeschlagen ließ sich der Inspizient auf einen Stuhl fallen.
Der Landesvorsitzende und die Praktikantin schauten mich an. In diesem Moment äußerster moralischer Deprivation war politische Führung gefragt. Opinion leadership . Ich musste handeln. Frisch sprang ich auf, stieg auf den Stuhl und hielt eine flammende Rede an mein so überschaubares wie schwer in Wallung zu bringendes Publikum.
Jawohl, hob ich an, ein Programm müsse her, ein Wahlprogramm, wie es die Welt noch nicht gesehen habe. Ein Wahlprogramm mit richtigem Inhalt, mit Punkten und Positionen, das die Menschen in ihrer ganz persönlichen Lebenskrise erreiche und ihnen konkret weiterhelfe. Politik bilde doch bekanntlich das Leben ab, deshalb müsse so viel reales Leben wie möglich rein ins Programm. Jetzt sei die Zeit der Lösungen gekommen. Während es sicher nicht leicht werde, für die anstehende Bundestagswahl ein Programm zu finden, mit dem wir es allen recht machen würden, sei dies im Falle der räumlich begrenzten OB-Wahl geradezu ein Kinderspiel. Hier könnten wir ganz konkrete Lösungen für die kleinen Sorgen und Probleme unserer gebeutelten Mitmenschen anbieten.
Im weiteren Verlauf der Diskussion stellte sich allerdings recht schnell heraus, dass wir von den Problemen der Leute da draußen gar keine Ahnung hatten. Was waren das überhaupt für Menschen? Was trieb sie um? Und was brachte sie zu der irren Annahme, dass ausgerechnet wir ihnen helfen konnten? Zu uns, durch die holzvertäfelten Wände unseres war room , drangen die Hilfeschreie der Erniedrigten und Beleidigten jedenfalls nicht.
«Scheißegal», befand der mächtige Landesvorsitzende. «Wir können Lösungen auch ohne dazugehörige Probleme anbieten. Wir stemmen das! Alles andere wäre ja noch schöner!» Voller Bewunderung lächelte Chantal ihn an. Hatte er etwa bereits ihre Handynummer?
In diesem Augenblick kam mir die rettende Idee!
Zunächst mal bräuchten wir wohl ein spektakuläres Großbauprojekt, erklärte ich der verblüfften Runde. Ein gigantisches Projekt, das alle Bürger in gemeinsamer Anstrengung eine. Ein Projekt, das allen zugutekomme. Das sei die einfachste Möglichkeit, um programmatische Zeichen zu setzen. «Wie wäre es also», schlug ich vor, «wenn wir eine große Statue meiner eigenen Person errichten ließen?»
Ich hatte von dem turkmenischen Erfolgspolitiker Saparmyrat Nyýazow gehört, der nicht nur sich selbst «Turkmenbaschi» nennen ließ – «Führer der Turkmenen» –, sondern auch einer Stadt, Schulen, Flughäfen, einem Kalendermonat, einer Melonensorte und einem Meteoriten diesen Namen gab. Dazu hatte er auch allen Grund, denn er war nicht nur Präsident auf Lebenszeit, sondern gleichzeitig auch Regierungschef, Oberkommandant der Armee, Vorsitzender der einzigen zugelassenen Partei und oberster Dichter und Philosoph und Prophet auf Erden – und trug daher verdientermaßen den Ehrentitel «Diamantenkranz des Volkes». Zur Erbauung und Belehrung dieses Volkes schrieb er das Grundlagenwerk Ruhnama , in dem er seine ganz persönlichen Ansichten zur Geschichte Turkmenistans, zum politischen Miteinander, zu vorschriftsmäßiger Kleidung und zum Straßenverkehr darlegte. Als Buch der Seele ließ er es auf Kosten seiner Geschäftspartner DaimlerChrysler und Siemens sogar ins Deutsche übersetzen und Sentenzen daraus neben die Koransprüche in der größten Moschee Turkmenistans einmeißeln. Der Septembertag, an dem er das Buch vollendete, wurde nationaler Feiertag und der September in Ruhnama umbenannt. Um seinen glücklichen Untertanen eine ungestörte Lektüre zu gewährleisten, ließ der Turkmenbaschi Kino, Oper, Ballett und Zirkus verbieten und die Bibliotheken schließen. Das Seelenbuch avancierte zur einzigen Schullektüre, Erwachsene mussten jeden Samstag darin lesen, und bei Führerscheinprüfungen wurden hauptsächlich Paragraphen der Ruhnama abgefragt. Nicht nur durch diese bedeutenden Reformen hatte der weitsichtige Regent sein Land gewaltig vorangebracht, sondern vor allem auch durch das Aufstellen riesiger Turkmenbaschi-Statuen. In der Hauptstadt des Landes dreht sich bis heute ein riesiger goldener Koloss in vierundzwanzig Stunden einmal um sich selbst – um immer der Sonne zugewandt zu
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