Mein Wahlkampf (German Edition)
alle.
Leider erst nach der Wahl kam ich mit einer Armenierin ins Gespräch, die durch befreundete Griechen von meiner Freibieraktion gehört hatte. Sofort beschwor ich die traditionelle deutsch-armenische Freundschaft und versicherte ihr, dass ich den heldenhaften Freiheitskampf des tapferen armenischen Volkes sehr genau beobachtete. Ich hatte zwar keine Ahnung, wo Armenien genau lag, nahm aber an, dass dort bestimmt gelegentlich rumgeballert wurde. Die Armenierin hatte Tränen in den Augen und drückte meine Hand. «Hätte ich gewusst, dass Sie Kandidat sind, ich hätte Sie gewählt. Sie sind ein Freund Armeniens! Die armenische Gemeinschaft Frankfurts hört auf mich, ich hätte Ihnen achthundert Stimmen besorgt.» Jetzt hatte auch ich Tränen in den Augen. Wir vereinbarten für alle zukünftigen Wahlkämpfe meinen vollen Einsatz für die Sache Armeniens.
Obwohl ich auf diese Weise unzählige Wähler kennengelernt und auf mich verpflichtet hatte, stellte der Politkommissar eines Tages fest: «Sie kennt noch immer kein Schwein!» Deshalb sei es jetzt an der Zeit für den härtesten Teil des Wahlkampfs – den Häuserkampf. «Sie müssen raus, grassroots campaigning , amerikanischer Wahlkampf, von Tür zu Tür!»
Da ich jedoch nach seinen Berechnungen mit eigenen Themen nicht mehr punkten konnte, gelte es nun, mit der bereits angedachten Negativkampagne den Gegner zu desavouieren. «Und zwar den Hauptgegner, den CDU-Fritzen!» Dafür habe er bereits einen sehr genauen Plan ausgearbeitet, sagte der Politkommissar und putzte seine Nickelbrille. Auf die Häuserkampf-Strategie – Klingeln, «Scheiß-CDU!» brüllen und wegrennen – wollte er sich nicht mehr verlassen. Die sei zu unsicher, sagte er. Viel klüger wäre es, wenn ich mir die Ähnlichkeit mit dem CDU-Herausforderer zunutze machen würde. Der hieß Boris Rhein, war Innenminister des Landes Hessen, galt als deutlicher Favorit – und ich sah ihm leider tatsächlich ziemlich ähnlich. Diesen biologischen Nachteil, so der Politkommissar, solle ich zu einem Vorteil machen: indem ich an Haustüren klingle, mich als Boris Rhein ausgebe und mich dann unmöglich aufführe. Er drückte mir eine Tüte mit Boris-Rhein-Wahlgimmicks in die Hand – Schals, Postkarten, Buttons, Feuerzeuge. Das alles sollte ich quasi «als Ausweis» mitnehmen und bei den Besuchten abgeben. Damit sie etwas in der Hand hatten, wenn sie sich an die Horrorbegegnung mit diesem unmöglichen CDU-Kandidaten erinnerten.
«Die klassische Haustürkampagne», sagte der Kommissar, sei seines Erachtens die beste. «In Deutschland ist sie komischerweise noch immer verpönt. Willy Brandt war bei uns der Erste, im Wahlkampf 1961, da versuchte man, ihn zum deutschen Kennedy aufzubauen. Man steckte ihn in einen hellen Anzug, setzte ihn in ein cremefarbenes Cabrio und schickte ihn auf eine ‹Wahlreise neuen Stils›. So wie Sie jetzt im roten Anzug im roten Auto unterwegs sind.»
Eigentlich hatte mir der mächtige Landesvorsitzende ja zugesichert, dass ich ein rotes SL-Cabrio als Wahlkampffahrzeug erhalten sollte. Doch während ich Ewigkeiten auf den Mercedes wartete – angeblich war der Wagen noch immer «in der Inspektion» –, musste ich mit einem völlig indiskutablen Ersatzfahrzeug vorliebnehmen: einem rot lackierten Dreiradauto mit Motorrollerkabine und Kastenaufbau, wie man es früher häufig in Parks und Fußgängerzonen sah, wenn die Abfalleimer geleert wurden. Das sei ein «Hingucker», hatte der Landeschef gesagt und mich samt Fahrzeug angeschoben, damit der Mofa-Motor ansprang.
So fuhr ich mit meinem miniaturhaften Reinigungsauto in die grauen Vorstädte der Mainmetropole. Ich hatte einen alten Stadtplan unter dem Sitz gefunden und arbeitete mich nach Norden vor. Dort vermutete ich CDU-Wähler. Bis jetzt hatte ich mich noch nie außerhalb der Frankfurter Innenstadt bewegt, weil es dafür keinen Grund gab. Nun fuhr ich durch Ausfall- und Einfallstraßen, querte Autobahnringe und Gleisstränge und hatte bald keine Ahnung mehr, wo ich eigentlich war. Auf schnurgeraden Straßen knatterte ich durch merkwürdige Trabantenstädte. Ich sah eine Mehrzweckhalle, die aussah wie eine Kirche, sah eine Kirche, die aussah wie eine Mehrzweckhalle, und ich sah ein Stadtteilzentrum, das aussah wie eine Mehrzweckhalle, die früher mal eine Kirche war. Die Straßen waren alle völlig identisch, drei- bis viergeschossige City-Häuser mit Carport-Vorbauten, nagelneue Wohnburgen, die noch nach frischer Farbe
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