Mein Wahlkampf (German Edition)
Legastheniker von dannen.
Kinder seien eine Sonderform des Wählers, dozierte der Politkommissar, nämlich «entmündigte Wähler». In lebhafter Diktion wies er darauf hin, dass es «voll unkorrekt» sei, Kinder und Jugendliche vom demokratischen Entscheidungsprozess auszuschließen. Jawohl, das sei nicht nur ungerecht, sondern «streng genommen sogar verfassungswidrig». Er schien deutlich erregt. «Die Interessen von Kindern und Jugendlichen werden in der Politik überhaupt nicht berücksichtigt. Weil sie nicht mitwählen dürfen, werden ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen und durchweg ignoriert.» Es könne doch nicht sein, so der Kommissar voller Inbrunst, dass Kinder mit null Jahren schon in die Kirche eingetreten würden, aber von Gesetzes wegen bis zum vierzehnten Lebensjahr nicht über ihren Austritt entscheiden dürften. «Das kann man diesen unschuldigen kleinen Scheißern doch nicht antun, das geht gar nicht!», rief er in ohnmächtiger Wut und warf ein leeres Saftglas gegen die Wand, wo es sich mit einem lauten Klirren von seiner Existenz verabschiedete. Er war ein begeisterungsfähiger, sehr emotionaler Mensch, der völlig über den Gesetzen der Gewöhnlichkeit stand. Er liebte die Kinder, die ihn hingegen nicht mochten. Das war sein Drama.
«Kinder sollten von Geburt an wählen dürfen», rief ich, «sie sind nicht nur unser aller Zukunft, sondern ganz besonders die Zukunft von uns Politikern! Kinder sind ideale Wähler, denn sie sind leicht beeinflussbar, egoistisch und vollkommen käuflich – sie sind wie wir. Für ein paar Sammelbildchen, eine Handvoll Kaugummi tun die doch alles. Der Traum eines jeden Machtpolitikers!»
«Und Kinder sind nicht allein», pflichtete Chantal bei. «Wenn du die Kinder hast, dann hast du auch ihre Eltern.»
«Genau», sagte der Politkommissar, «außerdem sind Kinder viel einfacher zu kriegen als ihre Eltern, weil sie so simpel gestrickt sind.»
Chantal schmachtete ihn auf eine Weise an, die mir überhaupt nicht gefiel. Ich hatte dieser hochbegabten Praktikantin schon mehrfach durch Zwinkern oder auch obszöne Bemerkungen eindeutig signalisiert, dass ich so einiges für ihre künftige Karriere tun könnte – doch hatte sie dies bislang immer ignoriert. Vielleicht sollte ich da gelegentlich noch mal nachhaken und ihr den Brüderle machen. Immerhin war sie ja auch fast noch ein Kind, wenn auch kein Kind von Traurigkeit.
Doch nicht alle waren dafür, sich der Kindlein anzunehmen. Der Landesvorsitzende war strikt dagegen: «Ich habe, wie ihr wisst, selbst Kinder, und ich kann euch versichern: Sie verstehen nichts von Politik!», rief er und haute mit der Faust auf den Tisch, dass die Schnapsgläser hüpften.
Der Politkommissar wusste es besser: «Das macht nichts, wir arbeiten sowieso auf rein emotionaler Ebene. ‹Wahlkampf ist immer unpolitisch›, hat Gerhard Schröder gesagt.»
Der Landesvorsitzende ließ indes nicht locker: «Kinder sind unzuverlässig, das sind notorische Wechselwähler. Nimm ein Kind und lass es im Alter von drei Jahren voller Überzeugung CDU wählen – vier Jahre später hat es das schon wieder total vergessen und wählt dann vielleicht stramm links. Die Wichtel sind politisch überhaupt nicht einschätzbar. Außerdem sind sie gefährlich: Kinder verbreiten immer die neuesten Krankheitserreger, sie haben Läuse, Tuberkulose und sind tendenziell zu dick.»
«Ist doch gut», blaffte der Politkommissar zurück, «dicke Kinder sind schwer zu kidnappen.»
Auch Chantal wollte die Kritik des defätistischen Vaters nicht gelten lassen: «Im Gegensatz zu Erwachsenen sind Kinder immerhin nicht hinterhältig, sie haben halt klar definierte Interessen: Sie wollen das Happy Meal bei McDonald’s und ein neues iPhone. Und ich finde schon, dass Kinder auch ein Recht darauf haben, dass Eltern ihnen Markenklamotten kaufen und gegelte Irokesenfrisuren bezahlen!»
Außerdem hätten Kinder doch schon immer das Bedürfnis gehabt, sich in den politischen Willensbildungsprozess einzubringen, schlaumeierte der Kommissar. Um sich mehr Gehör zu verschaffen, hätten Kinder sich seit jeher aus freien Stücken zu Gruppen zusammengeschlossen, da gebe es viele Beispiele, von denen der Komsomol, die Hitlerjugend, die Pfadfinder, Tokio Hotel oder die Regensburger Domspatzen nur die bekanntesten seien. «Und so was», fuhr er fort, «so was brauchen wir auch! ‹Der Jugendverband muss seine Arbeit mit der zentralen Aufgabe der Partei koordinieren und außerdem
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